Donnerstag, 1. September 2011

12. Monatsbericht - Abschlussbericht

"Hey, ihr da! Fliegt ihr mit Iberia nach Madrid?! Dann los, ihr seid die letzten, man sucht schon auf dem ganzen Flughafen nach euch!"

Unser Flieger in San José, Costa Rica


Und so verpassten wir um ein Haar unseren Flieger nach Europa – ein kleiner Tipp an zukünftige Reisende: Die Bildschirme auf den Flughäfen zeigen die Abflugzeit, nicht die Boardingzeit.





 Aber wie so oft in diesem Jahr war das Glück auf unserer Seite und es ist nochmal alles gutgegangen, sodass ich den ersten Teil meines Abschlussberichts, der von meinen Erfahrungen in Nicaragua handelt, hier und jetzt im Flugzeug schreiben kann, während der zweite einige Tage nach meiner Ankunft verfasst wird und meine ersten Eindrücke in Deutschland schildert.



Teil 1

Nicaragua


Wie kann ich euch denn am besten Nicaragua begreiflich machen? Mit Text? Mit Bildern? Mit Musik?
Am besten ein Mix von allem!
Und zwar in Form eines Knetfilms, den Manuel und ich in mühseliger Kleinstarbeit zusammengeschustert haben, auch mit Hilfe von Freunden und Verwandten, die während der Drehtage zu Besuch kamen. Der Film heißt „Malangasalat“, was eine Hommage an ein leckeres Essen ist, das wir erfunden haben. Im Grunde genommen ist es ein Kartoffelsalat, doch anstatt der Kartoffeln, bildet Malanga (eine weiße Wurzel mit lila Pünktchen) die Basis. Somit ist das Essen, wie auch ein Teil von uns, eine deutsch- nicaraguanische Komposition, interessant und auch ziemlich lecker.
Zugegebenermaßen ist der Film ohne Erklärungen etwas schwer zu verstehen, deshalb lest euch am besten unsere Gedanken zu einzelnen Aspekten des Films durch.




Die Charaktere


Schneemänner
Die Schneemänner sind natürlich wir. Weiß, groß und aus dem kalten Norden. Einen großen Klumpen Eis haben wir auch dabei, der unsere Fähigkeiten, Erwartungen und Vorstellungen darstellen soll, die wir aber schon kurz nach der Ankunft über Bord werfen sollten.

Das grüne Tier
Keiner weiß, was es wirklich ist, aber es ist auf jeden Fall unser Freund. Auch wenn es nicht viele waren, die ich auch noch nach Ende des Jahres als wirkliche Freunde bezeichnen würde, sie gibt es und wir werden sicher in Kontakt bleiben.


Die Barbies
Die Barbies sind die nicaraguanischen Gangster und aufdringlichen Mädchen, die uns ab und an das Leben schwer machten.

Die Nicas
Es ist keine Absicht, dass die Nicas im Film ein bisschen plump wirken – erst im Nachhinein ist uns aufgefallen, dass wir sie nicht sonderlich ästhetisch dargestellt haben. Das ist in Wahrheit nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Auch deren Gesänge am Lagerfeuer sind nicht so auf die Nicas zu übertragen – sie sollen eher die Andersartigkeit der Kultur suggerieren. Wohl wahr sind jedoch die Affinität zum „Zusammensein“ und Tanzen!




Die Landschaft

Die Insel
Die Insel, auf der wir mehr zufällig als geplant landen, ist Nicaragua.

Die Vulkane
Wie ihr ja bereits wisst, ist Nicaragua von Vulkanen übersät, die uns Cheles ganz schön Angst einjagen können. Vulkane sind ja auch ziemlich heiß und wie das den Schneemännern bekommt, wird man sehen…

Der Plastikwald
Ihr müsst euch vorstellen, dass in Nicaragua wahnsinnig viel Plastik verbraucht wird. Für jeden Keks, den man in der Pulpería kauft, kriegt man eine Plastiktüte und wenn mal ein Deckel für die Suppe auf dem Feuer fehlt, wird auch gerne mal zur Plastikplane gegriffen. Dieses Phänomen hat uns am Anfang sehr erschreckt, deshalb ein eigenes Kapitel.

Die Früchte
Egal ob Orangen, Wassermelonen, Bananen oder Ananas - leckeres Obst findet man in Nicaragua alle Nase lang, das fanden auch die Schneemänner oberlecker. 

Die Handlung

Im Grunde genommen ist die Handlung nicht schwierig zu verstehen. Zwei Schneemänner kommen auf eine unbekannte Insel, machen tolle, prägende Erfahrungen, merken aber auch bald, dass sie sich dort nicht „zuhause“ fühlen. Dazu tragen viele Dinge bei (Hitze stellvertretend für Umgebung, Verständigungsprobleme mit den Nicas stellvertretend für Verständigungsprobleme mit den Nicas, …) und auch wenn es vieles gibt, das uns gut gefällt, sind wir uns doch im Klaren darüber, dass dies nicht unser Platz auf der Welt ist.


Eine Sache, die uns in Nicaragua aber wahnsinnig gut gefallen hat, ist deren Lockerheit im Umgang mit der Zeit. In Nicaragua läuft noch nicht alles „superoptimiert“, es ist auch noch mal Zeit für ein Gespräch zwischendurch, Zeit, um mit den Kindern zu spielen oder zu kochen. Arbeit steht nicht an erster Stelle. Das Buch Momo von Michael Ende behandelt genau dieses Thema und deshalb haben wir es uns „auf die Fahne geschrieben“, auch in Deutschland darauf zu achten, nicht allzu „optimiert“ herumzulaufen.

Leider geht der Trend in Nicaragua aber auch dazu, sich in dieser Hinsicht der westlichen Welt anzupassen. Dass dieser Wandel neben materiellem Wohlstand auch andere, negative Dinge mit sich bringt, ist den Nicas noch nicht so bewusst und deshalb haben wir während des Jahres Wert darauf gelegt, so oft wie möglich zu betonen, dass die Nicas eine Ruhe besitzen, die in Deutschland selten anzutreffen ist. Somit geben wir ihnen am Ende dieses Handlungsstrangs Momo wieder zurück!

Nun seht aber selbst!





Teil 2

Deutschland

Deutschland ist ein anderer Planet.
Menschen sind anders, Tiere sind anders, Pflanzen sind anders, Häuser sind anders, Essen ist anders, Sprache ist anders, … fast alles ist anders!
Ich glaube, ich habe mich sehr schnell wieder angepasst, aber wenn ich mir vorstelle, dass ein Nicaraguaner hierher käme, würde er aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Zunächst würden ihm vor allem das Erscheinungsbild der Menschen (vergleichsweise riesig, in sich gekehrt, wenig Interaktion), das Straßenbild (sauber, große Häuser, luxuriöse Autos, Stille), das Essen (ungewohnte Zutaten und damit komischer Geschmack) und die Hektik auffallen. Ich weiß nicht, ob es ihm auf Anhieb gefallen würde.



Integration
Als eine Art heimgekehrter Auswanderer erlaube ich mir, das vieldiskutierte Thema Integration aus einer völlig anderen Perspektive, als die, die wir gewohnt sind, zu beleuchten.
Nach einem Jahr Eintauchen in eine andere (aber nicht völlig andere) Kultur ist mir klar geworden, wie schwierig es ist, sich zu „integrieren“, so wie wir es von Einwanderern, die nach Deutschland kommen, erwarten. Dass man sich seiner ursprünglichen Kultur 1000x näher fühlt, als der des Gastlandes, ist mir jetzt so verständlich wie noch nie. Dass man sehr stark dazu neigt, sich mit Menschen zu befreunden, die ähnlich denken wie man selber (und das sind nun mal in 90% der Fälle Menschen aus dem eigenen Heimatland oder andere Länder, in denen die Kultur der eigenen ähnelt). Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich als Einwanderer abschotten sollte, es macht es aber um vieles verständlicher.
Ich beispielsweise habe mich nicht besonders gut in die nicaraguanische Gesellschaft integriert, obwohl ich von mir behaupte, ein relativ offener Mensch zu sein. Sprachliche und gedankliche Barrieren machen es wahnsinnig schwer, in einer anderen Kultur wirklich mitzuwirken. Oft saß ich mit Manuel auf unserer Dachterrasse, wir hörten Musik und plauderten für uns, obwohl ein Stockwerk tiefer die Familie zusammen Fernsehen geschaut hat. Ein Gespräch in der Tiefe herzustellen, wie man es mit einem Europäer gewohnt ist und in dem beide Gesprächspartner auf ihre Kosten kommen, ist tricky.

In der Muttersprache fühle ich mich nach wie vor um einiges wohler, es ist die Sprache meiner Gefühle, die ich brauche, um das nuanciert auszudrücken, was ich gerne ausdrücken möchte. Und das fühlt wohl ein jeder Mensch auf der Welt, ganz gleich ob die Muttersprache Deutsch, Spanisch oder Usbekistanisch ist.


Ein großer Unterschied zwischen mir und südländischen Einwanderern in Deutschland ist aber noch, dass ich in einer ganz anderen Position nach Nicaragua kam. Als weißer chele war ich von Anfang an interessant, begehrt und gern gesehen. Diese Wahrnehmung haben glaube ich nur sehr wenige Einwanderer in Deutschland. Voreingenommenheit oder gar Rassismus spielen also der erfolgreichen Integration, sprich ein Umfeld, in dem es möglich ist, dass verschiedene Kulturen Dinge miteinander teilen können, natürlich nicht gerade in die Karten.
Ich sehe die oft geforderte „totale Integration“ nun jedenfalls in einem anderen Licht; wenn ich später in einem anderen Land leben sollte, werde ich mit Sicherheit meinen Kindern meine Muttersprache sowie die deutsche Kultur beibringen. Die Erwartungen mancher Menschen, dass Einwanderer ihre Identität wie einen Pulli bei der Einreise ablegen sollten („die sind ja jetzt in Deutschland, dann sollen sie sich halt auch so verhalten!“), ist demnach völlig realitätsfremd und stammt in den allermeisten Fällen von den Leuten, die selber noch nie die westliche Welt für einen längeren Zeitraum verlassen haben.
Ich will damit nicht sagen, dass Immigranten das Recht eingeräumt werden soll, sich vom Rest der Gesellschaft zu isolieren. Im Gegenteil, ich fordere auch Offenheit und "Integrationsbereitschaft", möchte aber, dass ihnen mehr Verständnis anstatt von Ignoranz entgegengebracht wird.


Das wäre schön!




Und was kommt nun?
Nach kurzer Verschnaufpause in Kassel geht es für mich auch schon wieder weiter. Ich migriere nämlich nach Hamburg, wo ich einen Studienplatz für Medizin hab und auf den ich mich schon sehr freue. Ich glaube, es wird sehr kräftezährend, ich bin aber guter Dinge, dass ich dem einiges entgegenzusetzen habe.
Unterstützen in diesem Vorhaben wird mich mein bester Freund seit Sandkastengedenken, the legendary „Busenharry“ Yasin Aktepe, den es auch nach Hamburg verschlagen hat und mit dem eine WG gegründet wird. Ich bin wahnsinnig froh, dass ich mich dieser Aufgabe nicht alleine stellen muss.

Schlusswort

Was das ursprüngliche Motiv des Auslandsjahres, die Arbeit, betrifft, kann ich abschließend sagen, dass ich nicht zufrieden bin mit dem, was ich erreicht habe. Ich konnte mich nicht so sehr helfend in die nicaraguanische Gesellschaft einbringen, wie ich es mir gewünscht hätte. Englischunterricht, Projektauswertung, Behindertenbetreuung hin oder her, das war nicht der große Sprung.
Trotzdem bin ich nicht enttäuscht, ich sehe  die realisierte Arbeit vielmehr als Rechtfertigung für meinen kostenintensiven, umweltschädlichen, … Aufenthalt, der mir aber viel mehr gebracht hat als den Nicaraguanern.

Ich habe das Gefühl, einen Riesenschritt gemacht zu haben.
Mein großes Ziel für dieses Jahr, mir etwas näher zu kommen, mich besser einschätzen zu können, erhabener und selbstbewusster zu sein, dieses Ziel habe ich erreicht. Noch nicht abschließend, aber dem Großen auf der Spur.

Somit muss ich all meinen lieben Spendern verkünden, dass sie das Geld im Endeffekt eher in mich und meine persönliche Entwicklung investiert haben als in Lateinamerika. Das war nicht so gewollt, jedenfalls nicht so einseitig.
Vielleicht habe ich in einigen Jahren einmal die Möglichkeit, als Arzt zurückzukehren und etwas zurückzugeben.

Bis dahin müssen wir aber auf anderem Wege Kontakt halten, denn mit diesem letzten Blogeintrag endet meine zwölfmonatigen Berichterstattung. 
Vielen Dank nochmal an alle Interessierten aber vor allem an meine großartigen Spender – ihr habt handfest dazu beigetragen, dass ich bin, was ich jetzt bin – ihr seid meine Shareholder!

Mit den großartigsten Grüßen
Euer Sasan




Das letzte Lied des Monats ist swingig, gut gelaunt, aber auch ein bisschen traurig – so fühle ich mich auch im Moment.





Mittwoch, 27. Juli 2011

11. Monatsbericht


El 19. de Julio...

212 Busse schießen hintereinander die Schnellstraße nach Managua entlang, zum bersten gefüllt mit angetrunkenen, Revolutionslieder-grölenden und Fahnen-wedelnden Anhängern der Regierungspartei FSLN. Zehntausende Menschen aus allen Departamentos sollen sich an diesem Tag in der Hauptstadt einfinden um den Tag der geglückten Revolution zu feiern, dieses Jahr vielleicht noch opulenter als die Jahre davor, denn es ist Wahljahr und die Massen müssen mobilisiert werden. Dass Massenveranstaltungen dafür ein probates Mittel sind, ist dem Deutschen ja nichts Neues…

Neben der nicaraguanischen Flagge sind auch noch einige andere vertreten...


Aber was hat es mit dem 19. Juli auf sich?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein bisschen weiter ausholen. Genauer gesagt, bis ins Jahr 1502…

Achtung
Geschichtsmuffel können unbesorgt runterscrollen. Mit mir hat die Abhandlung nichts am Hut.

Dich interessiert es doch? Sehr gut! Dann auf!

Also, wir waren im Jahr 1502, dem Jahr, in dem Nicaragua von Christopher Kolumbus entdeckt und auch gleich in den Besitz der spanischen Krone genommen wurde. Die Folgen für die indigene Bevölkerung waren natürlich, wie im Rest Lateinamerikas auch, katastrophal. Versklavung, Christianisierung und Deportation hielten ein.


Eine Reiseroute mit verheerenden Folgen
Dieser Zustand hielt sich bis 1821, als die Welle von Unabhängigkeitserklärungen gegen das von Napoleons Feldzügen gebeutelte Spanien auch Nicaragua erreichte. Wahre Unabhängigkeit war jedoch nicht die Folge, vielmehr machten die USA in den folgenden Jahren immer mehr ihre Interessen in Nicaragua geltend, da, so komisch es auch klingen mag, der schnellste Weg von der Ost- zur Westküste über Nicaragua führte. 

Somit setzten die USA eine Reihe von Marionettenregierungen ein, bis sie im Jahre 1933 nach verlustreichen Kämpfen mit einer Guerillatruppe unter General Sandino im Norden des Landes einen Diktator namens Somoza samt ergebener Nationalgarde hochzogen, der sich stark autoritär bis ins Jahr 1979 im Amt hielt. Im bald darauf folgenden zweiten Weltkrieg schlug sich Somoza trotz zuvor bekundeter Sympathien für die italienischen und deutschen Faschisten 1943 auf die Seite der Alliierten, was ihm Gelegenheit gab, die vielen deutschen Plantagenbesitzer zu enteignen (tatsächlich sind viele Kaffeeplantagen hier im Norden von Deutschen gegründet worden, wie zum Beispiel die Selva Negra, auf Deutsch Schwarzwald). 
Ein schwäbisches Bauernhaus inmitten der Berge Nicaraguas

Durch Deals mit den USA verschaffte sich die Diktatur unter Somoza außenpolitische Immunität, während innenpolitisch mit Peitsche regiert wurde. Opposition und Kritik wurde nicht geduldet und bis auf den Tod verfolgt, wie die Ermordung des Unabhängigkeitskämpfers Sandino 1934 beispielhaft zeigt. Dieses Zusammenspiel ließ Nicaragua in den Jahren von 1933 bis 1979 allerdings wirtschaftlich stark voranschreiten, noch heute schwärmen viele Ältere hier von den „guten Zeiten“, als der Nicaraguanische Córdoba noch mehr Wert war als der US-Dollar.

 Aller Gefahren zum Trotz erhob sich das Volk, angeführt von den selbsternannten Erben der Ideologie Sandinos, den sog. Sandinisten, gegen die Regierung. In einer blutigen, zweijährigen Revolution, während der über 30.000 Menschen ihr Leben ließen, konnte die Somoza-Regierung an eben jenem 19. Juli 1979 endlich aus dem Land gejagt werden…

Die Sandinisten, die sich auf einen Sozialismus mit christlichen Grundwerten stützten, konnten in den ersten Jahren ihrer Regierungszeit mit Daniel Ortega als Präsidenten auch große Fortschritte in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen vorbringen. Aus Sympathie für die sandinistische Revolution kamen auch viele Deutsche Freiwillige in diesen Jahren nach Nicaragua, wie auch die Chefin der La Cuculmeca, der Entwicklungsorganisation, in der ich arbeite.
Die Jahre des Friedens währten aber nicht lange. Bereits in den frühen 80er Jahren begannen die Vereinigten Staaten unter Ronald Reagan, der wohl fürchtete, nach Kuba auch Nicaragua an die „Kommunisten“ zu verlieren, Contra-Rebellen mit Waffen, Geld und Ausbildung zu unterstützen. Diese Contras terrorisierten die Landbevölkerung, legten Minen (nördlich von Jinotega hin zur Grenze nach Honduras gibt es immer noch viele verminte Gebiete), verbrannten die Ernten – kurzum, taten alles, um das Land und insbesondere die Regierung zu destabilisieren.

10 Jahre Terror und Wirtschaftsembargos gingen natürlich nicht spurlos an der Bevölkerung vorbei. Der Unmut gipfelte 1990 in der Abwahl der sandinistischen Regierung – an ihre Stelle trat ein Zusammenschluss von 14 konservativ-liberalen Parteien, der ein Ende des Contra-Krieges und breiten Wohlstand versprach. Die Wirtschaft wurde tatsächlich in den folgenden Jahren mit Hilfe einer Reihe von Maßnahmen wie Privatisierungen oder Sozialkürzungen modernisiert, was aber nicht wirklich bei der Bevölkerung für mehr Wohlstand sorgte, sondern eher den Eliten die Gelegenheit gab, sich die Taschen vollzustopfen, in etwa wie in Deutschland heute, nur noch offensichtlicher. Als Beispiel kann der damalige Präsident Arnoldo Alemán angeführt werden, der selbst die Hilfszahlungen der internationalen Gemeinschaft veruntreute, die nach dem Hurricane Mitch, der im Jahre 1999 weite Gebiete Nicaraguas verwüstet hatte, gespendet wurden.

An Opportunismus mangelte es aber auch den sandinistischen Führungselite nicht – zwischen Abwahl und Amtsübergabe im Jahr 1990 ließen sie eine Menge Staatsbesitz auf sich umschreiben, was hier zynisch unter dem Begriff Piñata (siehe Monatsbericht März) bekannt ist.


Situation heute

Insgesamt haben sich die beiden Blocks – Sandinisten und Liberale – in den letzten 20 Jahren immer mehr angeglichen. Das zeigt auch die Wiederwahl der Sandinisten im Jahr 2006, bei der wieder der Sandinistenpräsident von vor 20 Jahren mit 38% der Stimmen ins höchste Amt rückte und in Folge derer die sehr weit verbreitete Korruption und Opportunität kein bisschen zurückgegangen ist. Bildung und Gesundheitsversorgung sind zwar wieder kostenlos, aber in einem erbärmlichen Zustand. Als ich beispielsweise vor einigen Monaten einen Englischschüler von mir im Krankenhaus besuchte, bekam ich mit, dass die Menschen teilweise zu mehreren Personen in den Krankenbetten liegen, die manchmal sogar nicht einmal eine Matratze haben. Außerdem ist nur die ärztliche Versorgung kostenfrei – Verpflegung und Medikamente müssen selber bezahlt werden.

Mit knalligem Pink und Microsoft-Word Schrift gehen die
Sandinisten auf Stimmenfang
Mitglieder der regierenden Partei genießen dabei noch einige Vorteile. Ihnen werden beispielsweise Rinder, Wellblech und Saatgut geschenkt – so lange, bis die oppositionelle Partei am Ruder ist, die wiederum ihren Wählern bevorzugt unter die Arme greift. Dieser Klientelismus geht so weit, dass momentan allen Nicht-Regierungsparteimitgliedern keine Personalausweise ausgestellt werden, die aber natürlich notwendig sind, um wählen zu gehen.

Das hat sich Señor Sandino unter Freiheit und Demokratie sicher nicht vorgestellt.


Ein Blick in die Zukunft

So sehr ich mir auch wünsche, dass es nicht so wäre, fällt meine Einschätzung eher negativ aus.
Die beiden Parteien haben es sich tief im Kaninchenfell bequem gemacht und locken die Bevölkerung mit billigen Bonbons zu sich nach unten, während sie sich die fetten Pralinen reinfahren und dabei sogar noch parteiübergreifend kooperieren.  Hauptsache, der eigene Hintern ist im Trockenen.
In der Bevölkerung ist derweil alles andere als Aufbruchsstimmung zu spüren. Man schimpft zwar über die Politiker, ist aber insgeheim mehr damit beschäftigt, für sich selbst und seine Familie das größte Stück vom Kuchen abzubekommen.

In den Köpfen der Menschen muss einiges passieren, damit sich Nicaraguas Zukunft merklich von der Gegenwart abhebt. Entwicklungshilfe kann dabei einen Teil leisten, die Initiative muss aber aus der Bevölkerung, vor allem aus der jungen, kommen.



Für mich persönlich verlief der Monat Juli bis auf ein paar Highlights ziemlich ruhig. Wir sind wieder Wanderwege abgelaufen, haben viel gekocht, Gitarre gespielt, Sport gemacht, die eine Übersetzung hier erledigt, den anderen Bericht dort geschrieben, nichts Neues. Ein Wochenende habe ich mit den Schweizern in León, einer alten Kolonialstadt am Pazifik, verbracht, was sehr schön war und mit einem morgendlichen Schwimmbadbesuch (!) gekrönt wurde.

Nicht so schön ist, dass mein Computer vor einigen Tagen von einem Virus befallen wurde, mit dem Ergebnis, dass eine Menge Fotos, Musik und Dokumente verloren gegangen sind. Gott sei Dank war nichts wirklich Wichtiges dabei, ärgerlich und vor allem unnötig ist es trotzdem.

Neben diesen Kleinigkeiten habe ich mir ein neues Ziel gesetzt: Durch die USA reisen. Ich habe das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr lange das sein werden, was sie noch sind, die dominierende Macht in Dingen Kultur, Wirtschaft, Politik, …
Und solange sie das noch ist, muss ich sie mit eigenen Augen gesehen haben. Nachdem ich wieder in Deutschland bin, wird also gespart, im Sauseschritt, das Ziel im Blick!

Doch auch meine Vorfreude auf Deutschland wächst von Tag zu Tag. Ich habe das Gefühl, ich muss weiter, Nicaragua reizt mich nicht mehr. Aber es fehlt ja auch nicht mehr viel!

Ich wünsche euch allen einen schönen August,
den nächsten und letzten Bericht schreibe ich dann schon in Deutschland.

Mit den besten Gedanken
Euer Sasan



Passend zum Thema ist diesmal das Lied des Monats ein altes nicaraguanisches Revolutionslied, La Tumba del Guerillero, Das Grab des Guerillero. Es werden darin die Heldentaten der gestorbenen Revolutionskämpfer besungen, dass sie niemals vergessen werden und für immer bei uns bleiben. Dazu gibt es eine Diashow zumeist mit Bildern aus der Revolution. Beste Voraussetzungen also um 5 Minuten in Nicaragua abzutauchen...

Montag, 27. Juni 2011

10. Monatsbericht

Ich klammere mich verweifelt an die rissigen, ledernen Zügel und beuge mich nach vorne, um ein wenig Stabilität auf dem Rücken des durchgedrehten Pferdes zu erlangen – vergebens. Innerlich mache ich mich schon auf den Sturz in vollem Gallopp bereit, als…

das Pferd endlich an Geschwindigkeit verliert. Ich werfe einen Blick nach hinten und sehe die Hunde, immer noch kläffend, in einiger Entfernung mit dem Schwanz wedeln. „Alles ist gut, Jens“, flüstere ich dem Pferd zu, dessen Herz aber sicherlich nicht halb so schnell schlägt wie meins.




Erst vier Stunden später soll ich erfahren, dass ich meine erste Reiterfahrung auf einem Hengst namens Satan gemacht habe. Wie ich zu der Ehre kam?




Kartenaufzeichnungen im Norden Nicaraguas

Mein Freiwilligenkollege Manuel hatte durch Eigeninitiative einen Kartenmacher aus Deutschland nach Jinotega gelockt, um dort eine ausführliche Karte, die auch touristisch nutzbar sein soll, zu erstellen. Das Projekt ist nun in vollem Gange und Manuel ist gut eingespannt, mit möglichen Unterstützern in Verhandlungen zu treten oder Gegenden mit touristischem Potential zu erkunden.
Und da sich meine Beschäftigung, Interviews zu praktischen Veränderungen im Leben der Landbevölkerung durch geleistete Entwicklungshilfe ihrem Ende zuneigt, beschloss ich, Manuel bei dieser Aufgabe zur Seite zu stehen.
Diese führt uns in entlegene Gebiete, in die sich bisher nur wenige Touristen verirren, was wir ja ändern möchten – wie an besagtem Tag im Naturreservat Miraflor im Departamento Estelí, wo wir auf Empfehlung einer hiesigen Finca einen 60m hohen Wasserfall finden sollten. Der Weg dorthin sei jedoch zu Fuß schwer zu schaffen, weshalb man uns nahelegte, auf Pferden zu reiten. „Wird schon nicht so schwer sein“, dachte ich mir und begab mich hoch zu Ross. Nach kurzer Einführung, in der erklärt wurde, wie man lenkt, Gas gibt und bremst, fühlte ich mich unweigerlich ans Autofahren erinnert – ein lebendiges Tier ist dann aber doch noch ein wenig anders, es ist ein bisschen bockiger.

Naja, jedenfalls verlief sonst alles glimpflich und ich konnte ohne Blessuren wieder zurück nach Hause, eh, Jinotega kehren. Der Wasserfall war auch wunderschön und er wird sicherlich auf der Karte verzeichnet werden.




Montse…

Die Crew beim Basketball Spielen
Den Teil der Arbeit, den wir nicht unterwegs verbringen, sind wir bei Los Pipitos, den Pimpfen, einer auch von Entwicklungshilfe aus Holland finanzierten Einrichtung, die sich der Betreuung und Förderung von behinderten Menschen aller Altersklassen verschrieben hat. Und auch wenn die Arbeit manchmal wirklich lustig ist, werde ich immer müde dabei. Wie zum Beispiel, wenn ich 20 Sekunden warten muss, bis Montse, die einen Gehirnfehler hat, in irgendeiner Form auf eine Frage reagiert.
Jedenfalls habe ich jetzt eine Menge Respekt vor der Geduld der Betreuer, die täglich mit behinderten Menschen arbeiten.


Und Cut.

Durch selbstständige Zeiteinteilung bleibt bei der ganzen Arbeit aber auch noch genügend Raum für Freizeit, die wir zwar relativ zurückgezogen, aber dennoch produktiv nutzen. Zum Beispiel bin ich an der Erarbeitung eines Ernährungs- / Kochbuchs, in dem neben sämtliche Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelementen auch alle anderen bekannten Bestandteile der Nahrung aufgeführt sind, welche Aufgabe sie haben und in welchen Lebensmitteln sie zu finden sind. Dieses zusammen mit einem Fitnessbuch, in dem ein paar Erkenntnisse zu Kraft- und Herz-Kreislauf-Training zusammengestellt sind, soll auch im Studium einen fitten Sasan garantieren!
Außerdem habe ich angefangen ein Traumtagebuch zu führen. Manuel muss dann eben am nächsten Morgen immer herhalten und sich meine nächtlichen Ausflüge anhören.

Noch mehr Zeit, um nicht zu sagen all unsere Restfreizeit, stecken wir in die Entwicklung eines Films über unsere Erfahrungen hier in Stop-Motion (Sandmännchen-Style). Das ist echt aufwendig, bis jetzt haben wir schon ca. 2400 Fotos geschossen, ganz zu schweigen von der Nachbereitung, Schnitt und Vertonung. Bis zum Abschlussbericht gedenken wir aber fertig zu sein, sodass auch ihr ihn zu sehen bekommt.


Szenenwechsel.

Nun kommen wir noch einmal zu einem Thema, das mir sowieso, aber grad vielleicht noch mehr als sonst am Herzen liegt.

„Wir rufen deshalb auf: zu einem friedlichen Aufstand gegen den Missbrauch der Massenkommunikationsmittel und der Verführung unserer Jugend zum Massenkonsum, der Verachtung der Schwächsten und der Kultur, der kollektiven Amnesie sowie der maßlosen Konkurrenz  – Jeder gegen Jeden.“

Ein echter Republikaner
Das ist ein Zitat aus dem Büchlein „Empört Euch!“ von Stéphane Hessel, einem mittlerweile 93 Jahre alten ehemaligen Kämpfer der französischen Résistance und gleichzeitig letzter noch lebender Mitverfasser der universellen Menschenrechte. In seinem 14-seitigen Essay ruft er zu mehr zivilem Ungehorsam und Engagement im Zusammenhang mit politischen Themen aller Form und Farbe, von Sozialabbau über den Umgang mit der erst kürzlich „überwundenen“ Finanzkrise bis hin zu  Diskriminierung von Ausländern auf. Nicht sonderlich ausführlich, aber mit einer Botschaft im Sinne aller verantwortungsbewussten Menschen.

In diesem Zusammenhang muss ich diesen Monatsbericht auch einmal dafür nutzen, meinem Unmut über die letzten Geschehnisse in der (Finanz)Welt Luft machen, denn diese schlagen mir selbst hier in Nicaragua, wo Weltpolitik in den Köpfen der Menschen nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, gewaltig aufs Gemüt.

Beispiel: Griechenland und die Euro-Krise
Dem Süden Europas, und in nicht allzu langer Zeit auch dem Norden, geht ja gerade völlig überraschend finanziell die Puste aus. Als „ausweglos“ wird uns dabei die Rettung lügender und korrupter Staaten in Form von Bürgschaften und Sofortzahlungen in Höhe von hunderten Milliarden Euros verkauft, während die wahren Gewinner in diesem Spiel mal wieder die Finanzinstitute sind, die sich zwar anscheinend in risikoreichen Wertpapiergeschäften verzetteln können, den Preis dafür aber nicht zahlen müssen. Wieso gehen Banken, die schlecht wirtschaften, nicht Pleite? Weil sie zu groß sind? Dann dürfen sie doch nicht noch weiter wachsen und somit ihren enormen, jetzt schon fast alles umfassenden Einfluss weiter ausbauen!

Ganz zu schweigen von der Hand voll Ratingagenturen, die die Zinssätze, zu denen sich Länder weltweit Kredite auf dem Finanzmarkt besorgen, maßgeblich bestimmen. Dass diese völlig objektiv und unabhängig handeln, steht ja auch absolut außer Frage.

Herrje, so ein Durcheinander. Ich möchte nicht behaupten, dass ich viel Ahnung von der Materie hätte, aber hier merkt doch jeder Laie, dass die Sache oberfaul ist und von allen Seiten Klientelpolitik betrieben wird. Höchstwahrscheinlich endet die ganze Geschichte wieder in einer heftigen Inflation, die die riesigen Schuldenberge mit einem lauten Krach in sich zusammenstürzen lässt. Hoffentlich haben bis dahin so viele Sparer wie möglich ihre Schäfchen ins Trockene gebracht.

Meiner Meinung mach muss mehr Misstrauen gegenüber den Reichen und Mächtigen, Ackermännern, Merkels und Springern herrschen. Wir dürfen uns von einschlägigen Medien, Regierungen und Finanzinstituten nicht zum Narren halten lassen. Und warum nicht demonstrieren gehen? Die Vorfälle in Arabien, Spanien, Griechenland und auch Deutschland (Stuttgart21) sind ja auch nicht erfolglos geblieben.

Das Schlimmste, was man in unserer Lage tun kann, ist Gleichgültigkeit gegenüber den Geschehnissen vor unserer Haustür zu zeigen.

 „Neues schaffen heißt Widerstand leisten, Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“



Ich wünsche euch einen schönen Juli,

euer Sasan


Nicht zu vergessen: Zur beliebten Auszeichnung "Lied des Monats" hat es diesmal der Italiener Lorenzo Jovanotti mit dem Lied "Quando saró vecchio" geschafft, das vielleicht nicht das beste auf seinem neuesten Album ist (welches mich übrigens bestens durch den Monat begleitet hat), aber vielleicht das eingängigste. Es macht auf jeden Fall Spaß.
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Sonntag, 29. Mai 2011

9. Monatsbericht

 „Es gibt keine nicaraguanischen Restaurants in Deutschland? Dann eröffne eins und du wirst reich!“

Ich nicke und lächele gequält, während mir meine Gastmutter einen großen Teller auftut. Manuel, der auf einem Küchenstuhl sitzt und gerade ein Buch liest, schaut auf und grinst mich vielsagend an. Ich nehme den Teller in Empfang, in dem faustgroße Wurzel-, Kürbis- und Knochenstücke schwimmen – 2 ½ Stunden gekocht und mit einem Fettauge, das mich anstiert und sagt "Du gehst auf wie ein Hefeklos".

Das ist die ‚sopa de res‘, die Rindfleischsuppe, wie ihr aus der Wortwahl wohl entnommen habt, nicht gerade mein nicaraguanisches Lieblingsgericht. Allgemein freue ich mich nach 9 Monaten schon wieder sehr auf die heimatliche Küche – ich hätte nicht gedacht, dass Essen mir so viel bedeutet.


Essen als kulturelle Identifikation

Nicaraguanische Tortillas
Dass Essen ein wichtiger Teil der Kultur ist, wird ja wohl niemand bestreiten. Überall auf der Welt sind die Menschen stolz auf ihr Essen, so auch in Nicaragua. Für meinen Geschmack etwas zu stolz, gemessen am Ausmaß seiner Gaumenfreuden. Tatsächlich werden hier fast ausschließlich die traditionellen Grundnahrungsmittel, allen voran Mais, zelebriert – einfach nur gemahlen und gebraten (in Form von Tortilla), frittiert (Nachos), gebacken (als Küchlein und Keks), oder auch gekocht (Tamales). Leider hat der Mais hier (nicht mit dem Zuckermais aus Deutschland zu verwechseln) die Eigenschaft, nach nichts Besonderem zu schmecken, man würgt es eher runter um die Mahlzeit ein wenig zu komplettieren. Die Nicaraguaner hingegen können sich ein Essen ohne Tortilla gar nicht vorstellen und machen ungläubige Gesichter, wenn man ihnen erzählt, dass man in Deutschland nicht einmal Maismehl findet.

Hunderte Bananen am Wegesrand? Na die lass ich mir doch
nicht entgehen.
Ein anderes Grundnahrungsmittel hier ist die Banane, die auch wirklich in rauen Mengen vorhanden ist. Auf dem Land lohnt es sich nicht einmal, Bananen zu verkaufen, da jeder mehrere Bananenbäume im Garten stehen hat – und da diese mehrmals im Jahr austreiben, ist eigentlich ständig für Nachschub gesorgt. Trotzdem essen die Menschen hier die Bananen oft noch unreif, was mich verwundern ließ und zum Nachfragen bewegte, weshalb sie die Bananen nicht einfach noch zwei Wochen reifen lassen, denn dann würden sie ja viel besser schmecken. Die Antwort kam für mich wie aus einer anderen Welt: 
„Du hast Recht, aber wir wollen nicht in zwei Wochen essen, sondern jetzt!“

Es geht hier also teilweise viel weniger darum, was, sondern dass es zu Essen gibt.

Dieses eigentlich völlig natürliche Problem ist bei uns im Westen vollkommen überholt, oder wann hast du das letzte Mal eine unreife Frucht gegessen, weil du so sehr Hunger hattest?


Fett ist gut.

Diejenigen, die genügend Geld verdienen, als dass sie sich keine Sorgen mehr um ausreichend Nahrung machen brauchen (deren Anteil ich auf immerhin 70% der Gesamtbevölkerung schätze), hat aber anscheinend Probleme, den Unterschied zwischen ausreichender Ernährung und Überernährung zu erkennen. Anders kann ich mir nämlich nicht erklären, weshalb die Nicaraguaner so viel Öl/ Schmalz/ Sahne/… in ihr Essen kippen. Kippen ist bei 2l Öl, das innerhalb von drei Tagen (wie es in meiner Gastfamilie der Fall ist) verbraucht wird, auch wirklich das richtige Wort.
Das Ergebnis ist, dass auf der Straße zumindest jede dritte Frau übergewichtig ist, was man im zweitärmsten Land Lateinamerikas nicht unbedingt erwarten würde. Ich denke aber, dass man in diesem Fall nicht nur die Verbraucher für ihr Konsumverhalten verantwortlich machen kann, denn die Medienpräsenz und Erreichbarkeit von ungesunden, fettigen, zuckrigen und oft auch noch günstigen Produkten ist enorm. Beispielsweise kostet ein Pfund tiefgefrorenes Hühnchen, das mithilfe von Zucht in 21 Tagen vom Küken bis zur schlachtreifen Henne herangewachsen ist, lediglich 60 Cent.

Man kann erwarten, dass Menschen in Deutschland checken, wie widerlich das ist. Aber so weit ist Nicaragua noch lange nicht.


Man ist, was man isst.

Natürlich, was denn sonst. Wenn man verunreinigtes Benzin in einen Motor schüttet, wundert man sich ja auch nicht, wenn man auf der Strecke liegen bleibt. Deshalb ist die Ernährung meiner Meinung nach eins der wichtigsten Dinge im Leben.
 Dass mithilfe einer gesunden Ernährung die Risiken für Bluthochdruck, Diabetes, Herz- Kreislauferkrankungen, Allergien, … signifikant sinken will ja schon fast keiner mehr hören. Dass Ernährung aber auch einen großen Einfluss auf unser Äußeres (Haut, Haar, Nägel, …) und sogar auf unseren Körpergeruch hat, wissen schon weniger Menschen. Und dass alltägliche Haushaltsgegenstände aus Plastik teilweise so stark Bisphenol A (erkennt der Körper als Östrogen) ausdünsten, dass es stark im Verdacht steht, Hormonschwankungen mit allen seinen Folgen (z.B. Brustbildung bei Männern, Übergewicht bei Frauen) herbeizuführen, wissen nur die Allerwenigsten.

Ich bin sicherlich kein Fan von angeblich „wissenschaftlichen“ Studien, die so etwas „belegen“. Trotzdem wäre es doch interessant zu wissen, was das Plastik, das einen Großteil unserer Lebensmittel umhüllt, unter Hitze-, Sonnenstrahlen-, Säure- und manchmal sogar Spülmitteleinfluss so von sich gibt. Und das weiß bis auf den (wenn überhaupt) Hersteller, der meist aus dem ostasiatischen Raum stammt, niemand – am allerwenigsten die Nicas, die, falls der Topfdeckel mal nicht zur Hand ist, gerne einmal eine Plastiktüte auf die kochende Suppe legen.


Zu negativ bisher

finde ich den Monatsbericht. Deshalb kommt jetzt noch etwas Schönes. Und zwar ein leckerer Speiseplan von nicaraguanischem Essen, das auch ganz schmackhaft sein kann! Je nachdem, wie nahe du mir stehst, würde ich mich freuen, dir nach meiner Rückkehr das eine oder andere Gericht „vorzukochen“. Mal schauen wer sich traut ;-)


Frühstück


Ein leckeres nicaraguanisches Frühstück besteht traditionell aus einer frisch gekochten Bohnensuppe, die einem sehr viel Kraft für den Tag geben soll – dabei muss das Kochwasser unbedingt mitgelöffelt werden. Dazu gibt es saure Sahne, ein gebratenes Ei und dampfende Tortillas. Als Getränk gibt es stark gesüßten, schwarzen Kaffee vom Strauch um die Ecke, der pulverisiert einfach in Wasser gekocht und dann abgeschöpft wird. Wer keinen Kaffee mag, wird erstmal komisch angeguckt, kriegt dann aber ein Glas voll Haferflocken in Wasser, was mit etwas Zucker unerwartet gut schmeckt.


Mittagessen

Mittags könnte es Nacatamales geben. Das ist Maismehl, das mit viel Fett, Tomatensauce, Schweinefleisch und verschiedenen Gewürzen, in ein Bananenblatt gewickelt, stundenlang auf dem Feuer köchelt. Danach kann man das nun feste Paket auspacken und wegschlemmen. Dazu gibt es Fruchtsäfte aus Orange, Limone, Ananas, Drachenfrucht, … und vielen anderen tropischen Gewächsen, deren deutsche Namen ich nicht kenne. Schmecken aber alle fantastisch.


Abendessen

Drachenfrucht
Wer abends immer noch Hunger hat, kriegt Gallo Pinto, d.h. Bohnen mit Reis, knusprig gebraten, mit Cuajada (ein einfacher, leicht salziger Käse) und karamellisierten Bananen serviert. Getrunken wird wieder Kaffee oder die hier unheimlich beliebte, günstige und nur nach Zucker und Farbstoff schmeckende Rojita, eine Limonade, die von Ausländern, einmal probiert, gänzlich gemieden wird. 


Probiert haben muss man sie aber.

Als Betthupferl gibt es noch ein paar Buñuelos, sowas wie Berliner nur saftiger da mit Frischkäse, in reichlich Honig gewendet.

Und wer jetzt noch nicht geplatzt ist, kriegt entweder Wassermelone (die hier auch wächst und deshalb im Vergleich unschlagbar günstig ist – ca. 10 ct/ kg) oder frittierte Schweineschwarte, die aber ein bisschen zäh und sobald man darüber informiert wurde, was man da gerade ist, auch nicht mehr soo lecker ist.


Alles in allem ist die nicaraguanische Küche aber ziemlich grob – das meiste wird ohne Rücksicht auf Verluste stundenlang weichgekocht. Ich muss sagen, ich bin nicht der größte Fan. Gewürze gibt es hier bis auf Salz, Zucker, Chilischoten und Koriander so gut wie gar nicht.

Ich freue mich also schon wieder wahnsinnig auf echtes Brot, guten Käse, Joghurt/Quark, Beeren, Kuchen (selbst Mamas PENG-Teig Erdbeerkuchen), Obst, Pilze, einfache Gewürze wie Oregano, Thymian, Basilikum, … und und und. Deutschland hat echt mehr zu bieten als man glaubt. Und das merkt man leider erst, wenn man nicht da ist.


Ich wünsche euch allen einen fulminanten Start in den Sommer,
Sasan


Lied des Monats ist im Monat Mai 'Strawberry Fields' von den Beatles, die ich hier ziemlich viel höre. Und passend zum Thema ist es dazu :o)