Donnerstag, 2. Dezember 2010

3. Monatsbericht

Wir schreiben das Jahr 2109.

Es ist November. Mein halb-chinesischer Urenkel Tobias-Lee Chang und seine 20 angestellten Tagelöhner aus der westchinesischen Provinz Noldhessen (früher Nordhessen) haben die Ärmel hochgekrempelt. Es ist heiß an den Südwesthängen des Hohen Glas. Weiter unten, an der Fulda, wiegen sich die Dattelpalmen im tropischen Wind. Tobias-Lee macht sich rund 300 Meter höher mit seinen Mitarbeitern an die Kaffee-Ernte.
Es wird doppelt hart geschuftet, da einerseits moderne Maschinen wegen der knappen Energieressourcen nicht mehr zur Verfügung stehen (die Autoindustrie im weiter südlichen Stuttgalt hat es mal wieder verpennt, einen Motor zu entwickeln, der auch mit lokalem Palmöl betrieben werden kann) und andererseits ständig die Konkurrenz der Billigproduzenten an der US-amerikanischen Ostküste im Nacken sitzt – die Großabnehmer aus dem fernen Peking verlangen hohe Qualität zu einem Niedrigstpreis, kurz gesagt „Immer mehr für immer weniger“, „Wohlstand durch Wachstum“ nennt man es dort.
Von Nanuk, einem eingewanderten Alaskianer, hat Tobias-Lee erst kürzlich ein Dutzend Maultiere erstanden. Sie ziehen einen geländetauglichen VW Touareg, den er sich günstig von der Wolfbulgel-Autohalde besorgen konnte. Er stammte noch aus den Überproduktionen der automobilen Endzeit im frühen 21. Jahrhunderts. Mit abgesägtem Dach eignet er sich bestens für den Transport der leuchtend roten Kaffeekirschen zum nächsten westchinesischen Hochseehafen Zielenbelg, das sich nach dem Untergang von Blemen und Hambulg zum überregionalen Kaffeezentrum entwickelt hat, dessen Röstmeister mit herrlich duftenden Kaffeespezialitäten aufwiegen können…

Zugegeben, das klingt eher nach einem Traum eines Umwelt-Apokalyptikers. Nichtsdestotrotz lassen sich aber einige Parallelen zum nordnicaraguanischen Wirtschaftszugpferd, dem Kaffeeanbau, ziehen, dem ich thematisch diesen 3. Monatsbericht widme.

Ihr müsst wissen, Jinotega erwacht jedes Jahr von Mitte November bis Ende Februar aus seinem Dornröschenschlaf. Gastarbeiter strömen in die Region, um auf den Plantagen im Durchschnitt 3€ (ist echt nicht wenig hier) am Tag zu verdienen, unzählige LKWs voller Kaffeesäcke juckeln schrecklich stinkend durch die Hauptstraßen, Preise steigen von Gummistiefel bis zum Maiskeks von nebenan.
Das zweit-wertvollste Handelsprodukt, das von Entwicklungsländern exportiert wird, bringt fast ein bisschen Wohlstand in die Region (und auch in meine Tasche, ich habe letztens 40 Minuten Kaffee gepflückt und dabei fast 1€ verdient!). Mir tut es deshalb umso mehr weh, wenn das gerade erarbeitete Geld, aufgrund der allgegenwärtigen Medien- und Kulturpräsenz aus dem Norden, vielfach gleich für neue Fernseher, Musikanlagen, Kühlschränke, … verwendet wird. Was ich ihnen aber ehrlich gesagt auch nicht übel nehmen kann, denn wenn man 1x im Jahr plötzlich etwas mehr auf der hohen Kante hat, neigt man dazu, es auch schnell auszugeben (ich erinnere an das Weihnachtsgeld der älteren oder an den Extra-50er von Omi der jüngeren Herrschaften). Für nachhaltige wirtschaftliche Verbesserung reicht es jedenfalls nicht aus.

 44,9%Steuern, Zölle, Frachtkostenl
 23,7%Einzelhandel
 17,8%Händler und Röster
 8,5%Plantagenbesitzer
 5,1%Löhne der Arbeiter
Über den Tassenrand schauen

Wenn man die nebenstehende Grafik einmal überfliegt, erkennt man sofort, dass da etwas nicht stimmt. Wieso bleiben nur unter 15% des Endpreises im Produktionsland und davon über 60% in den Händen einiger weniger Industrieller? Das hat, neben vielen anderen Gründen, ganz einfach mit unserem Konsumverhalten zu tun. Wer meint, dass mit Kaffee vom Discounter die Zahl der von Kindern gepflückten Kaffeekirschen sinkt (immerhin 4 von 10 Beeren werden in Nicaragua von Kinderhänden gepflückt), den lach ich aus. 


Selbst das Bio- Zertifikat sagt ausschließlich etwas über den Einsatz von künstlichen Düngern aus, ignoriert aber die Arbeitsbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen. Inwieweit ein Produkt, das erst 10.000 km transportiert wird, bevor es in den Handel kommt, überhaupt „bio“ sein kann,  sei ohnehin in Frage gestellt.
Moralisch vertretbar kann meiner Meinung nach deshalb nur der Kaffee aus Fair-Trade-Kooperativen sein, der aber gegenwärtig lediglich 1% des verkauften Kaffees in Deutschland ausmacht.
Dass dieser so viel teurer sein muss, als dass er momentan noch ist, bezweifele ich stark, denn durch eine bessere Organisierung des Kaffeehandels entsteht ein riesiges Sparpotential, vor allem bei den Zwischenhändlern. Ein Beispiel:
Geschält, getrocknet, fermentiert und bereit zur Röstung
Bei uns nebenan ist einer der vielen jinoteganischen Kaffeehändler ansässig, dessen halbwüchsige Arbeiter 12 Stunden täglich 90 Kilo-Säcke (für umgerechnet 100€ im Monat) aus Lastwagen hieven. Dieser Händler kauft einen Sack Arabica-Kaffeebohnen, fertig für die Röstung (der einzige Produktionsschritt, der außerhalb des Landes des Landes erledigt wird – auf die Frage Warum? bekam ich die Antwort „sowas machen die Nicas nicht“), für 2000 C$ (ca. 70€). Diese Säcke lagert er bis zur Nacht und verkauft sie für das Doppelte an den nächsten Zwischenhändler. Nur für das Lagern und weiterverkaufen innerhalb von 16 Stunden.
Wenn man also den Kaffee mithilfe einer Kooperative direkt von den Kaffeeplantagenbesitzern kaufen würde, ihn hier im Land röstete und nach Deutschland in den Einzelhandel schickte, käme meiner Meinung nach genug Puffer für einen angemessenen Arbeiterlohn zustande. Ist wahrscheinlich sehr naiv gedacht, Potential ist aber in jedem Fall da.

Perspektivenwechsel. In Deutschland, als einer der Hauptabnehmerstaaten neben den USA, Frankreich, Japan und Italien, konsumiert man im Durchschnitt 2,8 Tassen am Tag - das macht den Kaffee zum beliebtesten Getränk der Deutschen (noch vor Bier). Der günstige Energieschub ist in unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken - viele Menschen kommen ohne ihre morgendliche Portion Koffein gar nicht mehr aus dem Bett. Das ist auch der Grund, weshalb ich selbst hier nicht so viel Kaffee trinke, ich möchte auf keinen Fall als Kaffeesuchti nach Deutschland zurückkehren.


Aber eins nach dem anderen.

Ich bin ja erst drei Monate hier. Was? 3 Monate? Wie schnell die Zeit doch vergeht…
Zum Beispiel bei der Arbeit. Leider kann ich nämlich, bis auf einige Seminare/ Aktionen mit jungen Reportern und meinem Englischunterricht (der aber leider auch zu Ende geht, da das Schuljahr komischerweise genau zur Kaffeeernte aufhört und viele meiner Schüler mehr oder weniger freiwillig Kaffee pflücken, sodass sich der Unterricht somit kaum noch lohnt) auf sehr wenig ‚Sinnvolles‘ im letzten Monat zurückblicken. Stattdessen interessiere ich mich für Elektrotechnik, China und Indien, was aber natürlich auch nicht der Inhalt meines Freiwilligenjahres in Nicaragua sein kann. Manuel und ich tüfteln deshalb weiter an einem selbstständigeren Projekt, bei dem wir selber Schwerpunkte setzen und uns einbringen können. Ich denke, im Dezember kann ich euch Konkreteres berichten.
Personalmente hat sich bei mir immerhin etwas bewegt. Zum Beispiel mein Wohnsitz. Gegen Mitte des Monats bin ich übergangsweise in das Haus der Eltern eines Arbeitskollegen von Manuel gezogen. Seitdem genieße ich wieder ‚Luxus‘ wie fließend Wasser, Bettdecke und sogar eine Waschmaschine. Ich habe zwar in der letzten Unterkunft gelernt, dass all dies nicht LEBENSNOTWENDIG ist, es aber doch den Alltag um einiges vereinfacht.
Wirklich wohl fühle ich mich in diesem Haus aber leider auch nicht (es ist ziemlich groß und die allermeiste Zeit bin ich alleine, das macht einsam), zumal das Haus ganz im Norden Jinotegas ist und die Cuculmeca (ganz im Süden) immerhin 45 Fußminuten entfernt liegt. Die 1 ½ Stunden täglich vertreibe ich mir mit dem (iberisch)spanischen Harry-Potter Hörbuch, das ich auf meinen Mp3-Player geladen habe, aber leider auch nicht ewig reicht.

Manuel ist ebenfalls, sogar noch früher als ich umgezogen, und ist auch bereits halb bedient von seiner neuen Gastfamilie. Anlässlich der nahenden Weihnachtszeit, hat Gastpapa die komplette Hausfront mit Lichterketten und aufblasbaren Schnee- und Weihnachtsmännern tapeziert – ganz nach US-amerikanischem Vorbild. Außerdem ist er Vorsitzender in einer christlich- wirtschaftlich orientierten ‚Bruderschaft‘ (SEKTE!!!), zu der er uns bereits im Rahmen eines Abendessens mit all seinen ‚Brüdern‘ zu bekehren versucht hat und derer wir uns nur dadurch entziehen konnten, da wir beteuerten bereits einer Bruderschaft in Deutschland anzugehören, die uns jeglichen Kontakt mit anderen Bruderschaften verbiete (sehr spontane Notlüge).
Verrückte Welt. War aber interessant zu sehen, wie diese Gruppierungen versuchen mit filmreifen Überzeugungsversuchen („Ich war dem Alkohol, den Drogen und den Frauen verfallen – aber nachdem ich auf die Worte der Bruderschaft und Jesu Christus hörte, waren alle meine Probleme gelöst) neue Mitglieder anzulocken. Seitdem versuche ich jedenfalls Manuels Gastpapa aus dem Weg zu gehen, was nicht so einfach ist, da er immerhin mein Nachbar ist.
Version 1.0
Mit Manuel verstehe ich mich aber nach wie vor süpèr. Zusammen haben wir die MASA S.A. Schokoladenfabrik ins Leben gerufen, die mit frischem Kakao von einer gemeinsam besuchten Vulkaninsel feinste Schokoladencrémes (mehr geht noch nicht, die Masse wird einfach nicht fest!) herstellt.


Dieses Wochenende muss die Produktion jedoch pausieren, da wir zusammen mit allen anderen Nicaragua – weltwärts – Freiwilligen zu einem Fest in die deutsche Botschaft in Managua eingeladen sind. Inklusive deutschem Buffet. Die Vorfreude (vor allem auf letzteres) ist jedenfalls schon groß.

Wie ich aus den Nachrichten höre, sorgt bei euch nicht nur der eingebrochene Winter für eisige Beziehungen auf dem Politparkett? Beides provoziert bei mir jedenfalls mindestens ein Schmunzeln. So kriege ich hier doch bis auf durch das Internet so gut wie gar nichts mit von dem, was im (k)alten Norden so passiert.

Ich freue mich in jedem Falle über jede Art von Enthüllungen, seien sie nun von euch in Form von Kommentaren/ Antworten oder auch anderer Natur,


euer Sasan





    Das Lied des Monats ist diesmal was fetziger und vom neuen Album von Calle 13, wer gerne mehr latinoamerikanische Musik hören möchte, ist mit diesem Album gut bedient, es heißt "Entran los que quieran" - "Es komme herein, wer möchte."

    Da in Deutschland Sony BMG nicht sonderlich großzügig mit der Verbreitung seiner Songs über youtube ist, muss das Lied des Monats über einen Proxy-Server geladen werden (genau wie beim letzten Lied des Monats). Das ist völlig legal, keine Sorge, die angeforderte Datei wird nur über das Ausland nach Deutschland geleitet und umgeht somit die "Länderkontrolle".

    Ihr müsstet also zunächst auf das "Auslandsyoutube"
    http://4.hidemyass.com/ip-1/encoded/Oi8vd3d3LnlvdXR1YmUuY29t&f=norefer


    Und dort folgenden Suchbegriff eingeben:
    Calle 13 - Baile De Los Pobres | Con Letra


    Auf diese Art und Weise kommt ihr übrigens auch auf alle anderen youtube-Inhalte, die in Deutschland nicht verfügbar sind.


    Viel Spaß beim Hören!





    P.S.: Wie der aufmerksame Leser es sicher schon bemerkt hat, habe ich mich im Vorfeld des Monatsberichts etwas im Internet schlau gemacht. Dabei waren vor allem zwei Seiten sehr hilfreich:
    1. Die alterwürdige Freundin der Informationssuche Wikipedia, die ich liebevoll Vicky nenne
    2. Einen sehr guten Weblog namens ‚Kaffee-Satz!‘ http://kaffee-blog.maskal.de/ - wer an dem Thema dran bleiben will, der kann noch etwas weiterlesen

    3 Kommentare:

    1. "da wir beteuerten bereits einer Bruderschaft in Deutschland anzugehören, die uns jeglichen Kontakt mit anderen Bruderschaften verbiete (sehr spontane Notlüge)."

      Das ist ja wohl die beste Notlüge aller Zeiten :D :D

      Ich finde Deinen Schreibstil extrem angenehm und kurzweilig; es macht immer wieder Spaß, Deine Berichte zu lesen...auch wenn Nicaragua doch sehr weit weg von Deutschland ist und sich das alles sehr anders anhört, nicht nur vom Wetter her (und irgendwie auch wieder nicht, wenn ich mir diesen amerikanischen Leuchtschmuck am Haus angucke...).

      Hier in Bremen liegt jedenfalls überall MATSCHE, und ich persönlich nehme auf meinen 16m² mit einem Tannenzweig und ein paar Teelichtern vorlieb ;-)

      LG aus dem hohen Norden deiner Heimat

      Julian

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    2. Christoffer Schäle24. Dezember 2010 um 10:38

      Die Anfangsgeschichte hat einen Fehler.
      Wenn wir keine Energie mehr haben die Agrarwirtschaft motorisiert laufen zu lassen, dann haben wir noch weniger Energie das ganze durch die halbe Welt zu verfrachten. Heißt also, dass die Globalisierung dann vorbei ist und wir keinen Konurrenzdruck mehr haben ;)

      Sonst sind deine Monatsberichte natürlich klasse.

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