Freitag, 24. Dezember 2010

4. Monatsbericht


Was für ein Glück, dass es Jesus gab.

Denn sonst würden der Wirtschaft weltweit jedes Jahr Milliarden € an Umsatz entgehen. Am „Fest der Liebe“ wird ja bekanntlich in Deutschland einfach noch mehr gegessen und gekauft als sonst. Und da wir ja in einer wunderbar globalisierten Welt leben, ist der Verkaufsschlager Weihnachten auch schon längst über den Atlantik geschwappt.
Das Ergebnis sind Plastiktannenbäume, geschmückt mit Plastikglitter und Plastikkugeln. An den Fenstern hängen Plastikleuchten, die in 1000 Farben hektisch blinkend eine Plastik- Jungfrau- Maria in künstliches Licht tauchen. Draußen kleben Pla… kate mit demselben weißbärtigen Weihnachtsmann, den wir auch von zuhause kennen. Fröhlich lachend trinkt er aus einer kleinen Glasflasche das Weihnachtsgetränk schlechthin… COCA COLA!
Warum bitte sollte denn der Weihnachtsmann eisgekühlte Cola trinken? Ihm ist doch gar nicht warm, sonst würde er doch keinen dicken Mantel und Mütze tragen! Aber hey, vielleicht ist die Cola, die er trinkt, gar nicht gekühlt, sondern warm…

Ein Schlückchen warme Cola… ?

Nein danke. Jetzt reichts. Ich hab verdammt nochmal keine Lust auf so ein kommerz- import-  Weihnachten. Das ist total unecht.
Doch trotzdem ist es Manuel und mir gelungen, vor etwa einem Monat richtig Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. Dafür benötigten wir lediglich einen der zahlreichen Stromausfälle, eine kleine Kerze und unsere Stimmbänder. Denn dann trällerten wir los, von ‚Stihiille Nacht, heilige Nacht‘ bis ‚Sankt Maaartin, Sankt Maaaartin‘, im Beisein unserer alten Gastmutter, die uns dann auch noch ein paar Spanische vorgesungen hat. Das war wirklich schön. Und ich habe dabei gemerkt, dass man so gut wie gar nichts für Weihnachten braucht.
Wobei…

MASA-Kekse schmecken gross und klein

Kekse braucht man.

Und auch wenn die nicaraguanischen Bäcker teilweise wirklich gut sind, ließen wir es uns nicht nehmen, selber den Schneebesen zu schwingen, für Kokosmakronen (mit selbstgeriebener Kokosnuss), Orangen- Schoko-Plätzchen (Orangen vom Baum am Wegesrand, die Schokolade natürlich von der MASA S.A.), Ingwer-Kekse, sowie Lebkuchen (die notwendigen Gewürze haben uns die Eltern von Schweizer Freiwilligen mitgebracht). Auf der Cuculmeca-internen Weihnachtsfeier wurden letztere dann mit großer Begeisterung aufgenommen und restlos aufgegessen.
Leider floss an besagter Weihnachtsfeier auch reichlich Alkohol, der selbst Zungen lockerte, die sonst in ihrer Meinungsäußerung eher zurückhaltend schienen. Irgendwann jedenfalls redeten eine Hand voll Männer aller Altersklassen auf uns ein, endlich doch mal was mit einer Nicaraguanerin anzufangen (sehr unangenehme Situation, da wir, ganz abgesehen davon, dass wir beide ja schon vergeben sind, im Moment vor lauter Selbstfindung gar keinen Kopf für Mädchen haben). Das Verständnis der Latinos für diese beiden Gründe hielt sich dann auch in Grenzen, woraufhin wir uns mit der Frage konfrontiert sehen mussten, ob wir nicht schwul seien, was mich zu einem interessanten Thema in Nicaragua und auf der ganzen Welt bringt.

Die Homosexualität

Dass man in Deutschland mal als schwul bezeichnet wird, wenn man nicht den Assi-Proleten raushängen lässt, ist mir ja nichts Neues. Was hier aber als schwul gilt, ist erst recht lächerlich. Außerhalb der Arbeit ist es somit schon ‘verdächtig‘, getrennt von der Gruppe mit einem anderen Mann zu REDEN.
Warum?
„Na wenn die nichts zu verbergen hätten, könnten sie das doch auch vor uns ausdiskutieren!“
Auch für Frauen ist es problematisch, z.B. ineinander eingehakt zu laufen („Man könnte uns für lesbisch halten.“)
Was will man dem noch entgegnen.


Nach einigen Gesprächen und Nachdenken über dieses Thema, das leider hier wie dort nur mit sehr viel Hemmung angefasst wird, kam ich zu einigen Erkenntnissen, die ich euch hier präsentiere (andere Meinungen/ Kommentare sind wie immer gern gesehen).
Die krasse Unterscheidung in homo- und heterosexuell findet nur in der Kultur statt und ist damit keinesfalls allgemeingültig. Im„Ach, so kultivierten“antiken Griechenland zum Beispiel war Homosexualität unter Männern etwas sehr Edles, was die Mächtigsten der Mächtigenuntereinander ausübten, um sich gegenseitig ihre Überlegenheit zu zeigen.
In einigen afrikanischen Stämmen wird ein Jüngling sogar erst zum “Mann”, nachdem er eine Nacht bei dem Stammesältesten verbracht hat, die ihm Vorsicht beim Beischlaf mit einer Frau lehren soll.

In der Tierwelt gibt es auch massig Beispiele dafür, dass Homosexualität keineswegs wider der Natur ist. Ich erinnere mich daran, dass die zwei weiblichen Hasen, die wir mal hatten, auch ab und zu aufeinander herumgehoppelt sind. Wenn man nicht gerade davon ausgeht, dass der Teufel sie dabei geritten hat, könnte man denken, dass sie einfach tun, was ihnen gefällt. Und solange man tut, was einem gefällt, ohne jemand anders dabei zu sehr zu stören, ist es Teil der persönlichen Freiheit, dessen Realisierung keinen außer der betreffenden Person etwas angeht.

Ich glaube außerdem, dass jeder für sich seine Sexualität finden muss. Für mich ist sie etwas sehr Vertrauliches, was Zeit braucht, aber spannend ist. Für dich ist sie vielleicht anders und das ist mir auch völlig egal.

Und zu guter Letzt sollte man nicht vergessen, dass die Sexualität zwar ein Teil des Menschen ist, aber sicherlich nicht der, nach dem man eine Person, beurteilen sollte.

Und wenn ihr euch jetzt fragt, wieso der Sasan seinen Monatsbericht über den Freiwilligendienst in Nicaragua so einem strittigen Thema widmet, dann lasst euch gesagt sein, dass ich selbst in Deutschland immer wieder auf sehr sehr oberflächliche Meinungen zu diesem Thema stoße („Ich hasse Schwule! Aber Lesben sind geeil…“). Es besteht also in jedem Falle noch Denkbedarf.
Nu reichts aber erstmal.





Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn plötzlich ein bekanntes Gesicht, zum Beispiel Deins, um die Ecke käme. Was fast unmöglich ist, da ich mittlerweile eigentlich in zweiWelten lebe, die sich, bis auf gelegentliche Ausnahmen über das Internet, kaum berühren. Wie es sich aber anfühlt, wenn diese aufeinandertreffen, kann ich euch in meinem nächsten Monatsbericht erzählen, der von meinen ganzen bisherigen Reisen, inklusive der jetzt kommenden mit Ayla nach Costa Rica, handeln wird. Und von der Projektidee, die kürzlich bewilligt wurde :)

Manuel steht nicht auf einem fahrenden Bus.

Auf dass euch die Weihnachtsgans (die ihr hoffentlich nicht im Supermarkt geholt habt) nicht im Halse stecken bleibt,

Mit vielen Gedanken und den besten Weihnachtsgrüßen,



Euer Sasan



P.S.: Es gibt allerdings auch echt schöne Dinge am nicaraguanischen Weihnachten. Zum Beispiel, dass ich hier noch nicht 1x WHAMs ‚Last Christmas‘ hören musste, da alle Weihnachtssongs auf Spanisch sind. Und die sind manchmal sogar ziemlich cool, eins möchte ich euch als Lied des Monats vorstellen:


Donnerstag, 2. Dezember 2010

3. Monatsbericht

Wir schreiben das Jahr 2109.

Es ist November. Mein halb-chinesischer Urenkel Tobias-Lee Chang und seine 20 angestellten Tagelöhner aus der westchinesischen Provinz Noldhessen (früher Nordhessen) haben die Ärmel hochgekrempelt. Es ist heiß an den Südwesthängen des Hohen Glas. Weiter unten, an der Fulda, wiegen sich die Dattelpalmen im tropischen Wind. Tobias-Lee macht sich rund 300 Meter höher mit seinen Mitarbeitern an die Kaffee-Ernte.
Es wird doppelt hart geschuftet, da einerseits moderne Maschinen wegen der knappen Energieressourcen nicht mehr zur Verfügung stehen (die Autoindustrie im weiter südlichen Stuttgalt hat es mal wieder verpennt, einen Motor zu entwickeln, der auch mit lokalem Palmöl betrieben werden kann) und andererseits ständig die Konkurrenz der Billigproduzenten an der US-amerikanischen Ostküste im Nacken sitzt – die Großabnehmer aus dem fernen Peking verlangen hohe Qualität zu einem Niedrigstpreis, kurz gesagt „Immer mehr für immer weniger“, „Wohlstand durch Wachstum“ nennt man es dort.
Von Nanuk, einem eingewanderten Alaskianer, hat Tobias-Lee erst kürzlich ein Dutzend Maultiere erstanden. Sie ziehen einen geländetauglichen VW Touareg, den er sich günstig von der Wolfbulgel-Autohalde besorgen konnte. Er stammte noch aus den Überproduktionen der automobilen Endzeit im frühen 21. Jahrhunderts. Mit abgesägtem Dach eignet er sich bestens für den Transport der leuchtend roten Kaffeekirschen zum nächsten westchinesischen Hochseehafen Zielenbelg, das sich nach dem Untergang von Blemen und Hambulg zum überregionalen Kaffeezentrum entwickelt hat, dessen Röstmeister mit herrlich duftenden Kaffeespezialitäten aufwiegen können…

Zugegeben, das klingt eher nach einem Traum eines Umwelt-Apokalyptikers. Nichtsdestotrotz lassen sich aber einige Parallelen zum nordnicaraguanischen Wirtschaftszugpferd, dem Kaffeeanbau, ziehen, dem ich thematisch diesen 3. Monatsbericht widme.

Ihr müsst wissen, Jinotega erwacht jedes Jahr von Mitte November bis Ende Februar aus seinem Dornröschenschlaf. Gastarbeiter strömen in die Region, um auf den Plantagen im Durchschnitt 3€ (ist echt nicht wenig hier) am Tag zu verdienen, unzählige LKWs voller Kaffeesäcke juckeln schrecklich stinkend durch die Hauptstraßen, Preise steigen von Gummistiefel bis zum Maiskeks von nebenan.
Das zweit-wertvollste Handelsprodukt, das von Entwicklungsländern exportiert wird, bringt fast ein bisschen Wohlstand in die Region (und auch in meine Tasche, ich habe letztens 40 Minuten Kaffee gepflückt und dabei fast 1€ verdient!). Mir tut es deshalb umso mehr weh, wenn das gerade erarbeitete Geld, aufgrund der allgegenwärtigen Medien- und Kulturpräsenz aus dem Norden, vielfach gleich für neue Fernseher, Musikanlagen, Kühlschränke, … verwendet wird. Was ich ihnen aber ehrlich gesagt auch nicht übel nehmen kann, denn wenn man 1x im Jahr plötzlich etwas mehr auf der hohen Kante hat, neigt man dazu, es auch schnell auszugeben (ich erinnere an das Weihnachtsgeld der älteren oder an den Extra-50er von Omi der jüngeren Herrschaften). Für nachhaltige wirtschaftliche Verbesserung reicht es jedenfalls nicht aus.

 44,9%Steuern, Zölle, Frachtkostenl
 23,7%Einzelhandel
 17,8%Händler und Röster
 8,5%Plantagenbesitzer
 5,1%Löhne der Arbeiter
Über den Tassenrand schauen

Wenn man die nebenstehende Grafik einmal überfliegt, erkennt man sofort, dass da etwas nicht stimmt. Wieso bleiben nur unter 15% des Endpreises im Produktionsland und davon über 60% in den Händen einiger weniger Industrieller? Das hat, neben vielen anderen Gründen, ganz einfach mit unserem Konsumverhalten zu tun. Wer meint, dass mit Kaffee vom Discounter die Zahl der von Kindern gepflückten Kaffeekirschen sinkt (immerhin 4 von 10 Beeren werden in Nicaragua von Kinderhänden gepflückt), den lach ich aus. 


Selbst das Bio- Zertifikat sagt ausschließlich etwas über den Einsatz von künstlichen Düngern aus, ignoriert aber die Arbeitsbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen. Inwieweit ein Produkt, das erst 10.000 km transportiert wird, bevor es in den Handel kommt, überhaupt „bio“ sein kann,  sei ohnehin in Frage gestellt.
Moralisch vertretbar kann meiner Meinung nach deshalb nur der Kaffee aus Fair-Trade-Kooperativen sein, der aber gegenwärtig lediglich 1% des verkauften Kaffees in Deutschland ausmacht.
Dass dieser so viel teurer sein muss, als dass er momentan noch ist, bezweifele ich stark, denn durch eine bessere Organisierung des Kaffeehandels entsteht ein riesiges Sparpotential, vor allem bei den Zwischenhändlern. Ein Beispiel:
Geschält, getrocknet, fermentiert und bereit zur Röstung
Bei uns nebenan ist einer der vielen jinoteganischen Kaffeehändler ansässig, dessen halbwüchsige Arbeiter 12 Stunden täglich 90 Kilo-Säcke (für umgerechnet 100€ im Monat) aus Lastwagen hieven. Dieser Händler kauft einen Sack Arabica-Kaffeebohnen, fertig für die Röstung (der einzige Produktionsschritt, der außerhalb des Landes des Landes erledigt wird – auf die Frage Warum? bekam ich die Antwort „sowas machen die Nicas nicht“), für 2000 C$ (ca. 70€). Diese Säcke lagert er bis zur Nacht und verkauft sie für das Doppelte an den nächsten Zwischenhändler. Nur für das Lagern und weiterverkaufen innerhalb von 16 Stunden.
Wenn man also den Kaffee mithilfe einer Kooperative direkt von den Kaffeeplantagenbesitzern kaufen würde, ihn hier im Land röstete und nach Deutschland in den Einzelhandel schickte, käme meiner Meinung nach genug Puffer für einen angemessenen Arbeiterlohn zustande. Ist wahrscheinlich sehr naiv gedacht, Potential ist aber in jedem Fall da.

Perspektivenwechsel. In Deutschland, als einer der Hauptabnehmerstaaten neben den USA, Frankreich, Japan und Italien, konsumiert man im Durchschnitt 2,8 Tassen am Tag - das macht den Kaffee zum beliebtesten Getränk der Deutschen (noch vor Bier). Der günstige Energieschub ist in unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken - viele Menschen kommen ohne ihre morgendliche Portion Koffein gar nicht mehr aus dem Bett. Das ist auch der Grund, weshalb ich selbst hier nicht so viel Kaffee trinke, ich möchte auf keinen Fall als Kaffeesuchti nach Deutschland zurückkehren.


Aber eins nach dem anderen.

Ich bin ja erst drei Monate hier. Was? 3 Monate? Wie schnell die Zeit doch vergeht…
Zum Beispiel bei der Arbeit. Leider kann ich nämlich, bis auf einige Seminare/ Aktionen mit jungen Reportern und meinem Englischunterricht (der aber leider auch zu Ende geht, da das Schuljahr komischerweise genau zur Kaffeeernte aufhört und viele meiner Schüler mehr oder weniger freiwillig Kaffee pflücken, sodass sich der Unterricht somit kaum noch lohnt) auf sehr wenig ‚Sinnvolles‘ im letzten Monat zurückblicken. Stattdessen interessiere ich mich für Elektrotechnik, China und Indien, was aber natürlich auch nicht der Inhalt meines Freiwilligenjahres in Nicaragua sein kann. Manuel und ich tüfteln deshalb weiter an einem selbstständigeren Projekt, bei dem wir selber Schwerpunkte setzen und uns einbringen können. Ich denke, im Dezember kann ich euch Konkreteres berichten.
Personalmente hat sich bei mir immerhin etwas bewegt. Zum Beispiel mein Wohnsitz. Gegen Mitte des Monats bin ich übergangsweise in das Haus der Eltern eines Arbeitskollegen von Manuel gezogen. Seitdem genieße ich wieder ‚Luxus‘ wie fließend Wasser, Bettdecke und sogar eine Waschmaschine. Ich habe zwar in der letzten Unterkunft gelernt, dass all dies nicht LEBENSNOTWENDIG ist, es aber doch den Alltag um einiges vereinfacht.
Wirklich wohl fühle ich mich in diesem Haus aber leider auch nicht (es ist ziemlich groß und die allermeiste Zeit bin ich alleine, das macht einsam), zumal das Haus ganz im Norden Jinotegas ist und die Cuculmeca (ganz im Süden) immerhin 45 Fußminuten entfernt liegt. Die 1 ½ Stunden täglich vertreibe ich mir mit dem (iberisch)spanischen Harry-Potter Hörbuch, das ich auf meinen Mp3-Player geladen habe, aber leider auch nicht ewig reicht.

Manuel ist ebenfalls, sogar noch früher als ich umgezogen, und ist auch bereits halb bedient von seiner neuen Gastfamilie. Anlässlich der nahenden Weihnachtszeit, hat Gastpapa die komplette Hausfront mit Lichterketten und aufblasbaren Schnee- und Weihnachtsmännern tapeziert – ganz nach US-amerikanischem Vorbild. Außerdem ist er Vorsitzender in einer christlich- wirtschaftlich orientierten ‚Bruderschaft‘ (SEKTE!!!), zu der er uns bereits im Rahmen eines Abendessens mit all seinen ‚Brüdern‘ zu bekehren versucht hat und derer wir uns nur dadurch entziehen konnten, da wir beteuerten bereits einer Bruderschaft in Deutschland anzugehören, die uns jeglichen Kontakt mit anderen Bruderschaften verbiete (sehr spontane Notlüge).
Verrückte Welt. War aber interessant zu sehen, wie diese Gruppierungen versuchen mit filmreifen Überzeugungsversuchen („Ich war dem Alkohol, den Drogen und den Frauen verfallen – aber nachdem ich auf die Worte der Bruderschaft und Jesu Christus hörte, waren alle meine Probleme gelöst) neue Mitglieder anzulocken. Seitdem versuche ich jedenfalls Manuels Gastpapa aus dem Weg zu gehen, was nicht so einfach ist, da er immerhin mein Nachbar ist.
Version 1.0
Mit Manuel verstehe ich mich aber nach wie vor süpèr. Zusammen haben wir die MASA S.A. Schokoladenfabrik ins Leben gerufen, die mit frischem Kakao von einer gemeinsam besuchten Vulkaninsel feinste Schokoladencrémes (mehr geht noch nicht, die Masse wird einfach nicht fest!) herstellt.


Dieses Wochenende muss die Produktion jedoch pausieren, da wir zusammen mit allen anderen Nicaragua – weltwärts – Freiwilligen zu einem Fest in die deutsche Botschaft in Managua eingeladen sind. Inklusive deutschem Buffet. Die Vorfreude (vor allem auf letzteres) ist jedenfalls schon groß.

Wie ich aus den Nachrichten höre, sorgt bei euch nicht nur der eingebrochene Winter für eisige Beziehungen auf dem Politparkett? Beides provoziert bei mir jedenfalls mindestens ein Schmunzeln. So kriege ich hier doch bis auf durch das Internet so gut wie gar nichts mit von dem, was im (k)alten Norden so passiert.

Ich freue mich in jedem Falle über jede Art von Enthüllungen, seien sie nun von euch in Form von Kommentaren/ Antworten oder auch anderer Natur,


euer Sasan





    Das Lied des Monats ist diesmal was fetziger und vom neuen Album von Calle 13, wer gerne mehr latinoamerikanische Musik hören möchte, ist mit diesem Album gut bedient, es heißt "Entran los que quieran" - "Es komme herein, wer möchte."

    Da in Deutschland Sony BMG nicht sonderlich großzügig mit der Verbreitung seiner Songs über youtube ist, muss das Lied des Monats über einen Proxy-Server geladen werden (genau wie beim letzten Lied des Monats). Das ist völlig legal, keine Sorge, die angeforderte Datei wird nur über das Ausland nach Deutschland geleitet und umgeht somit die "Länderkontrolle".

    Ihr müsstet also zunächst auf das "Auslandsyoutube"
    http://4.hidemyass.com/ip-1/encoded/Oi8vd3d3LnlvdXR1YmUuY29t&f=norefer


    Und dort folgenden Suchbegriff eingeben:
    Calle 13 - Baile De Los Pobres | Con Letra


    Auf diese Art und Weise kommt ihr übrigens auch auf alle anderen youtube-Inhalte, die in Deutschland nicht verfügbar sind.


    Viel Spaß beim Hören!





    P.S.: Wie der aufmerksame Leser es sicher schon bemerkt hat, habe ich mich im Vorfeld des Monatsberichts etwas im Internet schlau gemacht. Dabei waren vor allem zwei Seiten sehr hilfreich:
    1. Die alterwürdige Freundin der Informationssuche Wikipedia, die ich liebevoll Vicky nenne
    2. Einen sehr guten Weblog namens ‚Kaffee-Satz!‘ http://kaffee-blog.maskal.de/ - wer an dem Thema dran bleiben will, der kann noch etwas weiterlesen

    Freitag, 29. Oktober 2010

    2. Monatsbericht


    Hereinspaziert!

    Ich sitze bei 28° halbnackt auf meinem Bett, das Netbook auf dem Schoß, Manuel singt Lady Gaga und schwelgt in Erinnerungen an vergangene Abipartys. Ein Haufen Taschentücher neben meinem Kopfkissen, der meinem vor 3 Tagen eingefangenen Jahrhundertschnupfen zuzuschreiben ist, komplettiert die verrückte Szenerie. Ich frage mich, wie es jetzt wohl in Deutschland sein mag. Sorgen letzte warme Sonnenstrahlen für einen versöhnlichen Jahreszeitenwechsel oder hat der Winter bereits begonnen, Deutschland zu versklaven?!

    Der Blick aus unserem Zimmer, in genau diesem Augenblick
    Vom einen Moment auf den anderen hämmern dicke Regentropfen auf das Wellblechdach unseres Zimmers und übertönen sogar die überlaute Bachata-Musik unserer Nachbarn. Tatsächlich, vor zwei Wochen sind wir ein Stockwerk höher gezogen. Die Wohnqualität hat sich dadurch aber leider nur marginal verändert; immer noch tragen zwei Wände Schimmel. Statt weich, flauschig und grau-grün ist er jetzt weiß und fest, wie altes Kaugummi. Jedenfalls genug Grund, sich nach einer schimmelfreieren Bleibe umzusehen.

    ENTERATE!
    Bei der Wohnungssuche erhalten wir tatkräftige Unterstützung von unseren Mitarbeitern in der Cuculmeca, denen wir, so scheint es, jetzt schon ans Herz gewachsen sind. Wenn ich im Büro bin, werde ich tatsächlich alle 2 Minuten von irgendwem angestupst, angetanzt, angegrinst, angesungen, angeschrieben oder angehandreicht. Diese Aufmerksamkeit, der ich zuteilwerde, wird mir regelmäßig nach ein bis zwei Stunden unangenehm, woraufhin ich mich ins benachbarte Technikerbüro zu Juan und Moises setze, die auch sehr freundlich aber etwas ruhiger sind. Meine Arbeit an sich hat sich mittlerweile etwas zum Positiven entwickelt: Ich bereite Dokumente auf, fasse zusammen oder begleite zu Seminaren. Meiner Meinung nach immer noch nicht die schönste Arbeit, aber immerhin eine, die ich kann.


    Das Schulgebäude, vorbehalten jedoch den Grundschülern
    Zusätzlich gebe ich seit drei Wochen ein Mal wöchentlich Englischunterricht in einer zwei Stunden mit dem Bus entfernten Schule. Die Kinder sind unheimlich interessiert und wissbegierig, machen alle ihre Hausaufgaben, geben ihr Bestes; so kenne ich das aus Deutschland gar nicht. Mir macht die Arbeit Spaß. Vor allem, wenn die 6-jährigen morgens an der Bushaltestelle warten, um allen Lehrern einen Begrüßungskuss auf die Wange zu geben. Oder wenn man nach der Schule ein Zettelchen zugesteckt bekommt, auf dem steht, dass das Kind glücklich ist, die Zahlen auf Englisch gelernt zu haben. Oder wenn man ein Interview mit einer US-amerikanischen Hilfsbrigade organisiert, um das Gelernte gleich in die Praxis umzusetzen.
    Aus Platzmangel findet der Unterricht draußen statt
    Ich habe jedenfalls viel vor mit meiner fast 40-köpfigen Klasse und versuche ihnen, bis zum Ende des Jahres wenigstens die Grundkenntnisse von Grammatik und ein paar Vokabeln beizubringen, auch wenn sie es höchstwahrscheinlich niemals brauchen werden, da  eine Schule, die zur Hochschulreife führt, viel zu weit entfernt ist und ein Studium sowieso viel zu teuer ist, als dass es sich auch nur einer meiner Schüler leisten könnte.

    Trotz unzähliger Anfragen anderer Schulen, die auch gerne Englischunterricht anbieten würden, es aber schlicht und einfach keine Lehrer gibt, möchte ich es bei der dieser einen Klasse belassen und versuchen, an den restlichen Tagen (neben der Büroarbeit) eigene Projekte voranzubringen. Ich habe viele Ideen, die ich zwar noch ausarbeiten muss, aber möglicherweise meinem Freiwilligendienst einen Inhalt verleihen könnten, mit dem ich zufrieden wäre. Seid gespannt ;)

    Neben der Arbeit (wir gehen morgens um 07:00 Uhr los und kommen abends gegen 18:30 Uhr nachhause) gibt es weiterhin nur wenige Möglichkeiten, sich zu entfalten. Meistens sind wir so geschafft vom Tag, dass wir nur noch Essen und Schlafen gehen. Von meinem Ziel, viel Sport zu machen und viel Gitarre zu spielen bin ich somit noch weit entfernt. Falls sich der Inhalt meiner Arbeit also nicht hin zum ‚selbstständigen Arbeiten‘ verlagern sollte, werde ich meine Chefin darum bitten, mir mehr Freizeit zu lassen.


    Manuel und ich am Kratersee - im Hintergrund ein Vulkan
    Wenigstens bleiben bis jetzt die Wochenenden zur freien Gestaltung verfügbar, die wir meistens auch voll und ganz nutzen. Ob wir nun in andere Städte fahren, auf Berge klettern, zu einem Kratersee wandern oder Freunde und Mitfreiwillige in der Hauptstadt Managua besuchen; wir sind fast immer unterwegs. Letztes Wochenende war insofern besonders, als dass wir beinahe ausgeraubt wurden, als uns um 4 Uhr nachts nach einem Discobesuch in Managua drei nette Herren mit Messern überfielen. Der Vorfall ereignete sich auf einer gut beleuchteten, befahrenen Straße, im Beisein von zwei nicaraguanischen Studenten. Einer der sichtlich verängstigten Messerdiebe hatte mich gepackt, ich wollte mich losreißen, dabei ist mein T-Shirt gerissen und ich bin aus dem Gleichgewicht geraten, sodass ich auf dem Boden lag und zurückwich (man stelle es sich vor wie bei Harry Potter II, als Harry am Ende gegen den Basilisken kämpft – der Unterschied ist, dass er das Schwert hatte, nicht ich). Glücklicherweise hat in diesem Moment ein Auto angehalten, woraufhin die Diebe geflüchtet sind. Mir geht es also gut, nur dem T-Shirt nicht, es war das mit der Schallplatte drauf, falls man sich erinnert. Herrje.
    Im Nachhinein hätte ich vielleicht bereitwillig alles abgeben sollen um nichts zu riskieren, wer mich aber besser kennt, weiß, dass ich sowas niemals machen würde, falscher Stolz? Ich weiß es nicht. Gut ist, dass ich seitdem viel wachsamer bin, tags- und nachtsüber sehe ich überall potentielle Räuber und Banditen. Vielleicht hatte dieser Vorfall doch noch sein Gutes.

    Meiner Meinung nach sind es solche Erfahrungen, die einen Charakter reifen lassen, wenn sie auch nicht  immer so krass und aufregend sind, wie es der Überfall war. Jeden Tag finde ich mich in Situationen wieder, die ich aus Deutschland so nicht kenne und die mich wachsen lassen, mir die Frage stellen: Sasan, wo stehst du auf der Welt?
    Und um euch, liebe Leserinnen und Leser, diese Frage zu stellen, habe ich ein paar Schicksale aus meiner Umgebung herausgearbeitet, die euch veranschaulichen sollen, wie man die Herausforderung ‚Leben‘ auch, mehr oder weniger, meistern kann. Ohne Namen, ohne Fotos; alles andere wäre respektlos.

    1.       Die Haushälterin
    Jeden Donnerstag, wenn ich Unterricht auf dem Land gebe, fahre ich, obwohl mein Unterricht erst um 13:00 Uhr beginnt, bereits um 06:30, zusammen mit einer anderen Lehrerin, zur Schule. Sie unterrichtet ‚Módulos Tecnicos‘, ganz einfache Grundlagen für das Zusammenleben mit der Natur (á la „Warum soll ich keinen Müll in die Umwelt werfen?“). Die ersten Male habe ich am Unterricht teilgenommen, bald  fing er jedoch schon an mich zu langweilen, woraufhin ich immer öfter Spaziergänge in die umliegenden Kaffeplantagen unternahm. Gleich in der Nähe der Schule befindet sich eine Finca, deren Besitzerin ca. 3.500 Kaffepflanzen besitzt und die ausschließlich von der Ernte im November/ Dezember lebt. Die Besitzerin der Finca ist sehr gastfreundlich, bietet mir Essen & Trinken an, das ich nach anfänglicher Ablehnung aus Höflichkeit (ist hier alles andere als verbreitet) irgendwann doch angenommen hatte. Um die Gastfreundlichkeit nicht zu sehr auszureizen, wollte ich wenigstens mein Geschirr selber abwaschen, woraufhin ich in der Küche die 17-jährige Haushälterin kennenlernte, die den ganzen Tag für die Plantagenbesitzerin putzt, kocht und wäscht. Seit diesem Treffen verbringe ich die Stunden vor meinem Unterricht bei ihr in der Küche, helfe ihr soweit ich kann beim Kochen und erzähle ihr von Deutschland und umgekehrt. Als ich sie nach ihrem Gehalt gefragt hatte (hier gar kein Problem), sind mir fast die Augen ausgefallen: Monatlich verdient sie 300 C$, d.h. knapp 10€. Vorher arbeitete sie in einem Comedor (Imbiss) in Managua, wo sie in 1 ½ Jahren 1500 C$, d.h. 50€ verdiente. In 1 ½ Jahren.
    Zusätzlich hat sie ein 3 Monate altes Kind, das von ihrem Mann stammt, der sich aus dem Staub gemacht hat – zu Unterhaltszahlungen ist man hier nur formell verpflichtet.
    Angemerkt sei, dass sie keine Schulbildung genossen hat, da es dort, wo sie aufgewachsen ist, zu dieser Zeit keine Schule gab – sie kann folglich weder Lesen noch Schreiben, noch kann man ihr vorwerfen, sich in der Schule mehr angestrengt haben zu sollen.

    2.       Der große Bruder
    Mein Gastvater ist von Beruf LKW-Fahrer – er ist oft tagelang unterwegs, um Güter aller Art mit einem fürchterlich stinkenden LKW aus den 50ern durch das Land zu transportieren. Unterstützung erhält er dabei von einem 18-jährigen, ruhigen, unheimlich drahtigen Jungen vom Land, der die Nacht im LKW verbringt, um die Ladung vor Dieben zu schützen und für das Auf – und Abladen verantwortlich ist.
    Dieser Junge ist wirklich still, redet kaum ein Wort mit uns, auch wenn er manchmal tagelang bei uns wohnt. Eines Abendessens fragte ich Gioconda, meine Gastmutter, nach seiner Lebensgeschichte:
    „Er kommt aus Wiwili, ganz weit im Norden von Nicaragua und hat sage und schreibe 18 Geschwister. Vor etwa einem Jahr ist sein Vater gestorben, der die Familie ernährt hat, und da er der Älteste seiner Geschwister ist, liegt es nun an ihm, zusammen mit seiner Mutter die Familie zu versorgen. Seitdem arbeitet er ununterbrochen als Ladehelfer, spart eine bestimmte Summe an, um dann von dem Geld Essen für seine Geschwister zu kaufen. Dabei wird er pro Reise bezahlt, d.h. wenn es keine Aufträge gibt, verdient er nicht einen Cent."

    3.   Die schlaue Schülerin
    Jeden Donnerstag sticht ein 16-jähriges Mädchen in meiner Englischklasse besonders heraus. Nachdem auch mein dritter Erklärungsversuch bei manchen nicht gefruchtet hat, erklärt sie es nochmal in ‚nicaraguanischen‘ Worten. Wenn ich eine/n Freiwillige/n für einen Dialog suche, stellt sie sich immer zur Verfügung. Ihre Hausaufgaben gibt sie immer schon in der Stunde, in der ich sie aufgegeben habe, ab, und sie sind bis jetzt immer richtig gewesen. In allen anderen Fächern verhält sie sich genauso.
    ‚Eine schlaue Schlange‘ dachte ich mir, bevor ich mit der anderen Lehrerin über sie geredet hatte. Seit dem Gespräch, empfinde ich nur noch Bewunderung für sie. Es ist nämlich nicht so, dass sie den ganzen Tag Zeit hätte, sich auf die Schule zu konzentrieren – im Gegenteil: Ihre Mutter ist querschnittsgelähmt, ihre Geschwister arbeiten außer Haus und somit bleibt alle Arbeit an ihr hängen. Die Pflege ihrer Mutter, das Haus, das sie instand halten muss, das Essen, das sie kochen muss, … es ist fast unglaublich, was dieses Mädchen leistet. Nach dem letzten Unterricht kam sie, den Tränen nahe, zu mir und meinte, dass dieses Mal das letzte Mal gewesen sei, dass sie zum Englischunterricht käme - da sie nicht mehr wolle. Was ich ihr natürlich nicht abgekauft habe. Ich bin mir fast sicher, dass ihre Eltern sie, anstatt in die Schule, zur langsam anlaufenden Kaffeernte schicken möchten.

    Welche Schlüsse kann man nun aus diesen Schicksalen gezogen werden? Diese Frage bleibt jedem selbst überlassen (ich freue mich über Kommentare/ Meinungen, die man mittlerweile auch ohne Anmeldung weiter unten hinterlassen kann). Mir haben sie vor allem eins gezeigt: Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt. Gerechtigkeit ist ein Ideal, etwas nach dem man streben kann, was aber mit der Realität oft wenig zu tun hat. Ist es gerecht, dass wir in Deutschland geboren sind und auch wenn wir nicht arbeiten, einen unendlich höheren Lebensstandard genießen als 99% der hart arbeitenden Menschen hier?

    Dass man bekommt, was man verdient, ist eine Lüge.

    Und wo man geboren wird, ist pures Glück – wobei wir in der Lotterie der kleinen Sternchen einen Hauptgewinn gezogen haben – ohne, dass wir etwas dafür getan hätten, natürlich.

    Deshalb ist es für mich keine Frage, „Entwicklungshilfe“ zu leisten – um zumindest zu versuchen, einen ausgleichenden Effekt zu erzielen, um Chancen zu ermöglichen. Wer anderer Meinung ist, lade ich gerne ein, um zu sehen, wie ein 9-jähriges Mädchen um 5 Uhr morgens aufsteht um zwei Stunden Brennholz zu schleppen, bevor es, falls vorhanden, in die Schule geht.


    Somit verbleibe ich wieder mit den besten Grüßen von der anderen Seite des ‚großen Teichs‘ - denjenigen, die mir diesen Aufenthalt ermöglichen, gilt natürlich nach wie vor ein ganz besonderer Dank.



    euer Sasan





    Das Lied des Monats ist diesmals ebenfalls etwas nachdenklicher als feucht-fröhlich. Gesungen von Mercedes Sosa, einer wahren Ikone in Latinoamerika, und Calle 13, die den meiner Meinung nach besten Hip-Hop-Raggaeton jenseits des Atlantiks machen, handelt es vom Leben der vielen Straßenkinder in ganz Lateinamerika – deren Alltag und unserer Verantwortung, für diese Kinder zu sorgen.


    Montag, 27. September 2010

    1. Monatsbericht










    Liebe Freunde, Verwandte und Interessierte,



    Es ist früher Morgen, 06:39 Ortszeit, für euch 14:39. Ein letztes Mal drehe ich meinen Kopf auf dem vor Feuchtigkeit klumpigen Kissen; die Kombination aus Leinenschlafsack und Kunstfaser-Decke aus dem Flugzeug vom Hinflug sorgen für genau die Temperatur, bei der man nie aufstehen möchte. Rauch steigt mir in die Nase. Es ist der mit Feuerholz betriebene Ofen, auf dem unsere Gastmutter Gallo Pinto (wörtlich: bemalter Hahn), kocht. Tatsächlich sind es aber Reis mit Bohnen, das Standard-Gericht in Nicaragua, das zu jeder Tageszeit, immer wieder aufs Neue frittiert, gegessen wird.
    Gallo Pinto mit gelben Bohnen
    Damit ich nicht nocheinmal das mittlerweile verhasste Piepen meines Handyweckers ertragen muss, stehe ich auf, schlüpfe in eine meiner beiden Hosen, streife mir eines meiner fünf T-Shirts über und schreite aus der Zimmertür. Ich muss lediglich den Kopf heben, um zu erkennen, dass Nebelschwaden die grünen Berge rund um Jinotega bedecken; der halboffene „Flur“ machts möglich. Meine Gastmutter Gioconda huscht an mir vorbei und nuschelt ein ¡Buenos Días!, ehe sie fleißig weiterputzt, näht, oder kocht. Da sie von Montag bis Freitag Grundschullehrerin ist, muss sie auch früh raus, selten schläft sie länger als 5 Stunden. Samstags studiert sie Sozialwissenschaften.


    Unsere Küche mit Esstisch
    Manuel, der Mitfeiwillige aus Gießen, mit dem ich mich sehr gut verstehe und der meist etwas früher aufsteht als ich, sitzt bereits auf seinem Plastikstuhl am Küchentisch und schlingt sein Gallo Pinto herunter. Schlingen ist wirklich das richtige Wort: Ich habe noch nie jemanden getroffen, der schneller isst als er. Nach dem Frühstück wasche ich mich mit Brunnen- oder Regenwasser, putze mir dir Zähne, packe meinen Rucksack (Regenjacke, Regenhose, Kamera, Vokabelheft, evtl. Notebook), bis wir uns gegen  07:15 auf unsere Fahrräder schwingen, um zur Arbeit zu fahren. Eins der beiden Fahrräder konnten wir vom Hausmeister, Carlos, leihen; das andere mussten wir auf dem Markt kaufen. 70$/60€ für ein Silber-Blau-Metallic-„Shimano“ -Fahrrad; leider haben Pedale und Gangschaltung nicht eine Woche überlebt. Neben der miserablen Qualität liegt dies vor allem an den mindestens ebenso miserablen Straßenverhältnissen. Geteert wird lediglich zwischen den größeren Städten, meistens bewegt man sich auf Steinen, Dreck und Schlaglöchern fort. Selbst in der Stadt. Zu allem Überfluss tun sich von Zeit zu Zeit etwa 1m breite und 3m tiefe Löcher auf, die zum Kanal führen. Wenn man bei Dunkelheit da reintappt/fährt, hat man wohl Pech gehabt.



    Kühe und Bullen auf der Schnellstraße
    Außerdem sind die Straßen gesäumt von Tieren und Müll. Es ist keine Seltenheit, dass plötzlich eine Kuh, ein Pferd, ein LKW-Reifen oder Straßenhunde und –katzen auf der Straße stehen. Aufmerksamkeit ist gefragt, auch mit den anderen Verkehrsteilnehmern. Da es kein Eisenbahnnetz gibt, weichen Pendler und Reisende auf alte, US-amerikanische Schulbusse aus, die zu Stoßzeiten so voll sind, dass man lustige Quetschgesichter an den Scheiben sehen kann. Das ohrenbetäubende Hupen der Busse reißt mich dann aber immer wieder unsanft aus meiner morgendlichen Traumwelt; es gilt ja sicher und zeitig anzukommen und es ist mittlerweile schon 07:25, fünf Minuten vor Arbeitsbeginn. Meistens sind wir sehr pünktlich, kleine Verspätungen stören hier aber oft auch keinen großen Geist. Man/Frau fragt sich sicherlich, in was für einer Organisation ich da eigentlich arbeite, eine kurze Erklärung folgt:

    Die „Asosiación de Educación y Comunicación La Cuculmeca“ ist eine Non-Profit Organisation, die vor 20 Jahren von einer Deutschen und zwei Nicaraguanerinnen gegründet wurde und sich seitdem für eine bessere Lebensqualität der Bevölkerung und Umweltschutz im Departamento Jinotega einsetzt, mit besonderem Augenmerk auf Bildung. Der Name „Cuculmeca“ ist zurückzuführen auf eine regionale Heilpflanze, die mittlerweile vom Aussterben bedroht ist. Finanziert wird die Organisation ausschließlich durch Entwicklungshilfen aus Deutschland, den Niederlanden, Spanien und den USA, was ich persönlich als sehr problematisch sehe. Wenn diese Staaten ihre Entwicklungshilfe stoppten, was ja durchaus zur Diskussion steht, würden sich hier die Pforten schließen..

    La Cuculmeca - Insgesamt fast 300 Mitarbeiter arbeiten
    für Umwelt und Menschen in der Region
    Mein Arbeitstag beginnt jedenfalls mit einer kleinen Runde durch die Cuculmeca, in der ich die bekannten (und unbekannten auch, ich kann sie noch nicht so unterscheiden) Gesichter begrüße und Smalltalk halte. Hallo, wie und weiter gehts. Am Ende komme ich dann in meiner „Abteilung“ an, die Enterate! heißt, so viel bedeutend wie Informier Dich!. Die Aufgabe meiner 19 Mitarbeiter ist, der Kinderarbeit in der Region entgegenzuwirken; leider ist es nach wie vor üblich, dass Eltern ihre Kinder statt in die Schule auf das Feld zu schicken, um beim Kaffeeanbau (dem größten Exportgut der Region), bei der Ernte, oder einfach Zuhause zu helfen. „Wir“ fahren in die Dörfer, halten Informationsveranstaltungen, besuchen Schulen, Schüler und Eltern um ihnen den Wert von Bildung nahezulegen. Außerdem werden die Schüler und Schulen mit Material unterstützt; ein Schulplatz ist zwar staatlich garantiert, Hefte, Rucksäcke, Stifte, Uniformen, usw. müssen jedoch privat organisiert werden, was den Haushalt der unglaublich armen Bauern im zweitärmsten Land Amerikas absolut überfordert. Tatsächlich müssen 50% der Bevölkerung des von Kriegen, politischer Instabilität und Vetternwirtschaft gebeutelten Landes mit weniger als 1$ täglich auskommen, die Arbeitslosigkeit liegt bei 70%.
    Meinen Platz in der Abteilung habe ich bisher jedoch noch nicht gefunden. Bis jetzt habe ich lediglich meine Mitarbeiter auf ihren Touren begleitet, was einerseits schön ist, weil ich somit Land, Leute und Arbeit kennenlerne, andererseits aber auch frustrierend, weil ich selber nur sehr eingeschränkt helfen kann. Ich hatte mir wirklich viel in diesem Jahr vorgenommen (Projekte leiten, Unterrichten, etwas „bewirken“), bis jetzt bin ich davon aber leider noch weit entfernt – meine Aufgabe liegt momentan noch darin, mit meiner Kamera Fotos zu machen. Ich hoffe, dass sich mein Spanisch in den nächsten Wochen stark verbessert, damit ich endlich durchstarten kann.  Tatsächlich ist die Sprache bis jetzt die größte Hürde, man spricht hier leider kein Schulspanisch oder „castellano“. Viele Regionalismen, veränderte Grammatik und das Nuscheln vieler Menschen machen mir zu schaffen. Als Beispiel will ich ein ganz einfaches Beispiel nennen: Die Frage, Woher kommst du?

    Auf Schulspanisch lautete sie: ¿De dónde eres tú?
    In Nicaragua lautete sie: ¿De dónde sos vos?
    Und verstehen tut man, weil das „s“ nicht ausgesprochen wird: ¿De dónde sobbó?


    Schwierig also. Man muss viel nachfragen, darum bitten deutlicher und langsamer zu reden, was mir, als eine Person die immer alles sofort können will, schwer fällt. Manchmal reden die Leute auf mich ein, ich verstehe kein Wort, sage aber auch nichts, weil ich ich zu stolz bin, zuzugeben, dass ich es nicht verstanden habe. Ich weiß, muss ich ändern.
    Für den Alltag reichts mittlerweile aber größtenteils; die Relativitätstheorie kann ich aber noch nicht erklären (nicht, dass ich es nicht versucht hätte).


    Coole Disneyfilme
    Gegen 18:00 Uhr begeben wir uns dann auf den Heimweg, wieder auf dem Fahrrad. Mittlerweile ist es dunkel geworden, die hell erleuchteten Wohnzimmer, deren Türen fast durchgängig offen sind, ermöglichen einen Blick auf das Mobiliar. In fast jedem Wohnzimmer befindet sich mindestens ein Fernseher , sowie ein Altar für den allmächtigen Herren, stellvertreten durch Plastikfiguren und Poster. An einer Straßenecke verkauft ein ärmlich aussehender Mann DVDs. Teilweise Filme, die noch gar nicht im Kino waren, für umgerechnet 20 Cent, Wiedergabequalität schwankt. Woher ich das weiß, ist ein Geheimnis, denn ich unterstütze Raubkopien, wie ihr wisst, nicht.
    Unsere "Stammpulpería" an der Ecke


    Manchmal halten wir noch an einer sog. „Púlperia“, einem kleinen Kiosk, der in das Wohnzimmer integriert ist. Viele Nicas sind auf diesen kleinen Zusatzverdienst angewiesen, sodass man sich, bequemerweise, fast alle 200m günstig mit dem Nötigsten versorgen kann. Kekse, Trinkwasser (das in 1,5l Flaschen teurer ist als Cola, unglaublich) und Früchte erweitern somit das auf die Dauer etwas eintönige Essen in der Gastfamilie. Selbst sein Handyguthaben aufladen kann man, was in Nicaragua etwas anders läuft als in Deutschland. Man zahlt seinen Wunschbetrag, der anschließend auf das Guthabenkonto geladen wird. Um das Geschäft anzukurbeln, lässt es sich der reichste Mann der Welt allerdings nicht nehmen, das Guthaben nach 1-2 Wochen verfalllen zu lassen. Die Gebühren sind zudem beträchtlich: Pro SMS/Minute bezahlt man 20 Cent, für den Durchschnittsnica viel zu teuer.

    Zuhause angekommen, gibt es meist schon Essen. Einfaches, immer frittiert oder hoffnungslos weichgekocht und immer mit mindestens doppelter Portion Kohlenhydrate. Manchmal gibt es Reis, Kartoffeln und Tortilla (Maisfladen)!. Fleisch gibt es so gut wie nie, auch wenn ich es mittlerweile ab und zu wieder esse..., was meinem Körpergewicht mehr als gut tut. Die 6 Kilogramm, die ich während meiner Vegetarier-Ära abgenommen hatte, sind bereits nach 4 Wochen fast wieder drauf. Diesen Kohlenhdydraten und Proteinen versuche ich so oft wie möglich im örtlichen Gangster-Hip/Hop-Raggaeton-Fitnessstudio Form zu verleihen; ich habe nämlich Angst, dick zu werden.
    So verbringe ich also meinen Feierabend. Oder in der einzigen Discothek, in der ausschließlich zu Salsa/Merengue/Bachata getanzt wird. Wie ihr wisst, kann ich das alles nicht, ich hampel einfach mit. Gemütlicher geht es in der „Taverna“ zu, in der man in Gesellschaft Bier (schmeckt hier wie Wasser) oder Rum (der zu den besten weltweit gehören soll) trinkt, lacht und plaudert. Leider gehen wir bis jetzt nur mit Mitarbeitern der Cuculmeca weg, gleichaltrige Freunde haben wir noch nicht gefunden. Das liegt daran, dass die jungen, nicht-drogennehmenden Menschen, nachdem sie die Schule beendet haben, in die größeren Städte ziehen; Jinotega hat keine Universität.


    Außerdem vermisse ich meine Theatergruppe in Kassel. So sehr, dass ich jeden Montagabend in eine Selbsthilfegruppe gehe, in der Familienprobleme so gelöst werden, dass man sich nach Einleitung in die verschiedenen Charaktere hineinversetzt und seine Gefühle äußert/ zur Schau stellt. Nennt sich übersetzt „Aufstellung“ und ist, wenn ihr mich fragt, absoluter Humbug. Wenn man es aber ernst zu nehmen versucht, ist es fast wie Theater.
     La Casa Gioconda


    Die Gastfamilie ist in ihrer Abendgestaltung leider ziemlich einfallslos. Meistens laufen Telenovelas, die so unterirdisch schlecht sind, dass ich sie nichteinmal unter dem Vorwand Spanisch lernen zu wollen aushalte. Schön ist,dass sich unsere Gastmutter gut um uns kümmert. Täglich fragt sie, wie unser Tag war, gibt uns Einblicke in die nicaraguanische Kultur und Küche. Der Gastvater ist auch freundlich und lustig, wobei ein Macho, wie er im Buche steht. Ich habe besonders eine Szene, ziemlich am Anfang unserer Zeit hier, von ihm in Erinnerung: Abendessen, Manuel und ich sitzen am Tisch, Ricardo, so heißt er, hat sich soeben eigenhändig eine Glatze rasiert , tritt oberkörperfrei (gut beleibt) in die Küche, spuckt in den freiliegenden Abfluss, klopft mit dem Zeigefinger auf seinen Teller und knurrt: „Tacooo“.
    Auch zur Familie gehören die Oma, die sehr herzlich und nett ist, die 17-jährige Tochter  namens „Darling“, die in Managua studiert und nur am Wochenende nachhause kommt, Giocondas Schwester Jasmina, die in einer Gärtnerei 30km entfernt von Jinotega arbeitet, sowie der Hund „Oso“ (Bär), der tagsüber schläft und nachts Katzen tötet (kein Scherz).
    Was mich am Haus stört ist weder der nicht-vorhandene Wasseranschluss (Hahn und Toilettenspülung funktionieren nicht, man gewöhnt sich aber schnell dran) noch der Killerhund, noch die vielen ungewollten Mitbewohner (Fliegen, Mücken, Mäuse, Kakerlaken, ..)sondern der Schimmel. ALLES schimmelt, selbst Plastiksachen und Stein, wie Reisepass, Kulturbeutel, Rucksack und Wände. Wir mussten bereits 3x alles „entschimmeln“, da habem wir keine Lust mehr drauf, ganz abgesehen von möglichen Krankheiten/Allergien,  die durch den Schimmel verursacht werden. Deshalb sind wir bereits in Verhandlung mit der Familie getreten, das obere Zimmer, in dem Jasmina und Darling am Wochenende schlafen und das immerhin ein Fenster hat und einen Boden und nicht teilweise unterirdisch liegt, zu beziehen. Ich hoffe, dass das klappt.

    Letztendlich sitzen wir jeden Abend auf unseren Betten, erzählen uns vom Arbeitstag, essen Kekse und lernen die Vokabeln, die wir heute neu gelernt haben.




    Alles in allem ist mein erster Eindruck hier zu facettenreich um ihn in wenigen Sätzen ausdrücken zu können. Ich sauge nach wie vor alles in mich auf was ich sehe, höre und fühle. Auf jeden Fall ist es aber das, was ich wollte.
    Gesundheitlich geht es mir im Allgemeinen ziemlich gut. Vor Durchfall und Infekten bin ich bis jetzt weitestgehend verschont geblieben. Das kann auch ruhig so bleiben.

    Das war also der erste Monatsbericht, viel zu kurz, unvollständig und trotzdem 6 Seiten lang. Ich habe kaum ein Wort über die Landschaft, die wirklich traumhaft schön ist, verloren, nicht von meiner Pazifikreise in der 3. Woche berichtet (die Bilder sprechen bereits Bände), so gut wie nichts von der einheimischen Küche (die auch sehr lecker sein kann) erzählt, weder von der Mentalität nicaraguanischer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener, und so weiter uns so fort. Aber es wird ja noch weitere Monatsberichte geben und ich will nicht alles vorwegnehmen ;)


    Vielen Dank für Nachrichten, Gedanken und eure Unterstützung. Ich bin wirklich wahnsinnig dankbar, dass ihr mir das ermöglicht habt.



    Kommentiert und fragt was das Zeug hält, ich werde, soweit es geht, zurückkommentieren.



    Beste Grüße,
    euer Sasan





    Das Lied des Monats, das jeden Monatsbericht begleiten wird, ist diesmal von Madsen und heißt „Ich rette die Welt“. Ich habe es ausgewählt, weil es meine Euphorie und meinen Tatendrang besonders vor meinem Freiwilligendienstes widerspiegelt.






    P.S.: Ich habe noch eine Information/Anliegen/Bitte/ an euch:
    Als erfahrene Grundschullehrerin wählt meine Gastmutter Gioconda die begabtesten/intelligentesten Schüler des Departamento Jinotega aus, um sie auf die beste Schule des Landes zu schicken. Die Schule wird vom Staat finanziert, Dinge wie Kleidung, Schulsachen, Essen, etc. müssen jedoch, wie in den anderen Schulen auch, privat finanziert werden. Da sich die Schule aber weit entfernt ,in der Nähe von Managua, befindet, steigen die Kosten natürlich und ein Kind braucht ca. 50€ im Monat, um sich die einfachsten Schuhe, Schulsachen, Schuluniform zu leisten. Die Eltern können leider Gottes nicht für diesen Unterhalt aufkommen.
    Wenn ihr euch vorstellen könnt, ein Patenkind zu übernehmen und ihm/ihr möglicherweise die Chance seines/ihres Lebens geben wollt,  bitte ich Euch, Kontakt mit mir aufzunehmen(sasan.nica@googlemail.com). Selbstverständlich werden auch Teilbeträge entgegengenommen und ich garantiere dafür, dass das Geld bei den Kindern ankommt. Danke.