Sonntag, 27. Februar 2011

6. Monatsbericht

„Dein Geburtsdatum?“ frage ich. „Weiß nicht genau, meine Mama sagt immer, es war an einem Sonntag in der Nacht.“

Ich fange an zu lachen und schaue dem schätzungsweise 5 Jahre alten Jungen hinterher, wie er aus dem Klassenraum auf den Schulhof stürmt. „Warum legen wir eigentlich so viel Wert auf ein Geburtsdatum…“, frage ich mich, während ich die lückenhafte Anwesenheitsliste in meinen Rucksack stopfe.

Das war letzten Dienstag, an meinem ersten Arbeitstag in San Pedro de Buculmay, wo ich ab jetzt einmal wöchentlich die Lehrer für zwei Stunden entlaste. Um euch zu erklären, wie es dazu kam, muss ich aber ein wenig weiter ausholen.

Zurückspulen.

Und zwar zu Anfang Februar, genauer gesagt zum Zwischenseminar. Neben einer Menge interessanter Informationen über Politik, Wirtschaft, Medien, Machismus, … in Nicaragua, den Adrenalinschocks, die durch die bis zu 5 Meter hohen, direkt vor deinem Gesicht brechenden Pazifikwellen ausgelöst wurden, sowie den legendären philosophischen Diskussionen mit Pedro, Fabian und Robert, habe ich dort vor allem eine Lebensweisheit mitgenommen, die euch jetzt zwar nicht gerade vom Hocker hauen wird, die mir aber doch in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet hat. Sie lautet:

Die Initiative ergreifen. Wenn du etwas willst, dann musst du aktiv dafür eintreten,  es dir zu holen. Auf fremde Unterstützung, ganz gleich in welcher Form, ist in dieser Welt (außerhalb des Freundes- / Familienkreises) nicht zu rechnen. Und wenn sie dann doch, unerwarteterweise, kommen sollte, freut man sich umso mehr.

Mit neuem Mut und voller Motivation bin ich dann wieder nach Jinotega zurück, das genauso verschlafen wie sonst auch im Tal der umliegenden Berge lag. Als ob nichts geschehen wäre…
Manuel chillt. Im Hintergrund die Cuculmeca.
In den darauffolgenden Tagen haben wir ein neues Haus gesucht und auch gefunden, jetzt leben Manuel und ich (im Geist vereint), gegenüber der Cuculmeca, in einer neuen, unheimlich netten Gastfamilie, die sich bereits in der ersten Woche mehr um uns gesorgt hat, als die beiden vorigen in 6 Monaten zusammen. Neben zwei getrennten Zimmern haben wir zusätzlich noch eine Dachterrasse, die einem Turm ähnelt und einen Panoramablick in alle vier Himmelsrichtungen bietet. Netter Nebeneffekt: das W-LAN aus der Cuculmeca reicht bis in die Hängematte.


Mein Zimmer im Erdgeschoss mit Dachschräge
Doch diese blieb nicht die einzige Veränderung. Innerhalb von 7 Tagen habe ich mir einen Wochenplan geschaffen, der mich 5 Tage die Woche (und manchmal auch noch mehr) mit Aktivitäten füttert und dabei auch noch genügend Platz für Freizeit lässt (jeden Morgen stehe ich um 6:00 Uhr auf, gehe joggen, jongliere,  spiele Gitarre, lese, …), . Sogar Zeit für HTML-Lernen bleibt. Und da ich davon gerade so begeistert bin, müsst ihr meinen Wochenplan in einer wunderschön designten, selbstgeschriebenen HTML-Tabelle lesen. Aufgepasst!


Montag Zu Anfang der Woche obliegt mir die Verwaltung der Cuculmeca-Bibliothek. Dazu gehört neben der Ausleihe auch die elektronische Erfassung des Bestands, Access macht's möglich. In freien Minuten schreibe ich Berichte oder übersetze. Außerdem sind wir gegenwärtig am organisieren eines "Tag des Buches", an dem wir Kinder und Erwachsene die Bedeutung des Lesens nahelegen wollen. Damit die Leute auch alle kommen, backen wir einen Apfelkuchen. Wer ein gutes Rezept hat (mit Streuseln), der schreibe mir bitte eine mail.
Dienstag Wie bereits erwähnt, Beschäftigung von Kindern in San Pedro de Buculmay. Ursprünglich wollte ich mit ihnen ein Theaterstück nach Momo machen, was sich aber angesichts der 95 Kinder, die zu betreuen sind, als unmöglich herausstellt. Letzte Woche habe ich eine Mini-WM veranstaltet; 16 "Länderteams", jeweils bestehend aus 3 Jungs und 3 Mädchen, sollten gegeneinander spielen, die Siegermannschaft kommt weiter, usw. Das Chaos, das dabei entstand, war riesig. Ich glaube, dass ich im ganzen Turnier 3 Pässe, dagegen aber 5 kleinere Schlägereien gesehen habe ("DAS WAR ECKE!" "NEIN AUS!" "NEIN ECKE!" "*BUFF*"). Außerdem hatte sich bei der Partie Spanien - China die komplette chinesische Mannschaft aufgelöst - am Ende stand nur noch der chinesische Kapitän da, dessen Kameraden von nun an bei Spanien spielten, weil, nunja, sie Spanien cooler fanden.
Eigentlich ist es mir völlig egal ob die Regeln (oder meine Vorstellungen von Spaß) befolgt werden, Hauptsache ist, dass die Kinder die Zeit genießen. Und das taten sie.
Mittwoch Die Arbeitswoche kulminiert in dem Sportunterricht für junge, behinderte Erwachsene bei "Los Pipitos", einer weiteren Hilfsorganisation in Jinotega. Es ist faszinierend zu sehen, wie diese Menschen in ihrer eigenen Welt leben und doch die Hindernisse des Alltags bewältigen müssen. Es macht zwar Spaß, Fortschritte sind aber nur sehr sehr langsam zu sehen, weshalb ich mir eine lebenslange Beschäftigung mit geistig Behinderten nur schwer vorstellen kann - ich glaube, dafür bin ich zu ungeduldig.
Donnerstag Wie bereits vor den großen Sommerferien auch, gebe ich donnerstags Englischunterricht auf dem Land. Nicht, weil ich mir erhoffe denen Englisch beizubringen, sondern weil ich merke, dass sie Interesse zeigen. Und das soll belohnt werden. Letzte Woche kam ich leider umsonst die Schotterpiste entlanggefahren - unser Termin mittags biss sich mit ihren Essenszeiten, weshalb ich die Profesora alleine vorfand, mit der Nachricht, dass die Kinder gerne gekommen wären, aber so viel Hunger hatten, dass sie nach Hause mussten. Naja, nächste Woche ist es frühmorgens, hoffentlich klappt es da besser.
Freitag Mit Hinblick auf das Wochenende gehen Manuel und ich jeden Freitagvormittag in die durch Spenden aus Ulm finanzierte Kinderkrippe, um dort mit nur ca. 35 Kindern im Alter von 5-6 Jahren herumzutoben. Letzte Woche gingen wir mit ihnen auf den nahegelegenen Sportplatz, wo wir u.a. Staffellauf in 2 Gruppen um den Halbkreis herum spielten. Vielleicht sind solche Spiele wirklich nicht für kleine Nicaraguaner/innen geeignet; die Kinder liefen mitten durch den Kreis, stellten sich bei der anderen Mannschaft an oder liefen einfach 3 Runden statt nur einer. Auch bei "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?" (Das wir aus Empörung über den vorher nie bemerkten rassistischen Namen in "Wer hat Angst vorm Jäger?" umgetauft hatten), liefen letztendlich alle quer über den Sportplatz, zwei stießen sogar zusammen. Auf einem sonst leeren Fußballfeld…

Nächste Woche wollen wir es aber noch einmal versuchen, wohl nicht mit Völkerball, den Plumpssack trauen wir ihnen aber zu.



Und das war immer noch nicht alles. Im Moment organisieren wir zum Beispiel noch einen „Mülltag“, an dem wir mit Kindern durch das „Barrio“ (Viertel) ziehen und Müll aufsammeln möchten. Nicht, um Müllabfuhr zu spielen (das ist Aufgabe der Alcaldía, dem Rathaus), sondern um ein Bewusstsein für den Umgang mit Müll zu schaffen.
Oder letzten Samstag war ich in einer weit entfernten Gemeinde, wo gerade eine Schule mit Computern aus Spendengeldern aus den Niederlanden ausgestattet wird, die ich angeschlossen und im Netzwerk verbunden hab.

Es gibt viel zu tun – und ich fühl mich gut dabei. Dass ich nicht von Anfang an so loslegen hätte können, war, so glaube ich, unvermeidbar. Eine gewisse Zeit brauchte ich hier, um mich einzufinden und die Strukturen zu blicken – was ich natürlich längst noch nicht habe, aber immerhin so weit, dass ich zurechtkomme und mich einbringen kann.

Als Beispiel dafür, möchte ich euch von einem Gespräch mit dem sonst sehr netten Hausmeister und einem Fahrer der Cuculmeca erzählen, nach dem ich tatsächlich schockiert war.
Kurz zur Vorgeschichte: Ayla hatte mir aus Deutschland einen Motorradhelm mitgebracht, der flog sowieso nur zuhause herum und hier kann ich ihn gut gebrauchen. Manuel und ich sollten eine Dose Farbe kaufen fahren, auf dem Weg zum Motorrad begegneten wir nun dem Hausmeister. Das Gespräch verlief in etwa so:

Der Gegenstand der Zwietracht...
Hausmeister: „Oh, wow, hast du den Helm neu?“
Ich: „Nee, der ist alt und aus Deutschland.“
Hausmeister: „Willst du ihn mir nicht schenken?“ [?!]
Ich: „Ehm eigentlich nicht, ich brauch ihn doch hier.“
Hausmeister: „Ich würd ihn dir ja ausleihen, wenn du ihn brauchst.“


Ich: „Ich kann ihn auch DIR ausleihen, wenn du ihn brauchst.“
Hausmeister: „Hm. Und wenn du gehst? Schenkst du ihn dann mir?“
Ich: „Ja, vielleicht.“
Hausmeister: „Es gibt kein vielleicht. Entweder ja oder nein.
Ich: „Ja dann, nein.“
-Hausmeister tritt beleidigt ab-
-Fahrer tritt ein-
Fahrer: „Ich finde gut, dass du xxx den Helm nicht gegeben hast. Der hat schon so viel von den vorigen Freiwilligen bekommen.“
Ich: „Oh, danke.“
Fahrer: „Schenk ihn doch mir! Ich hab noch nie was bekommen! Oder schenk mir ein Schweizer Taschenmesser, XXX hat auch eins!“
Ich: „Was?! Ich schenk hier niemandem gar nichts!“
-Fahrer tritt beleidigt ab-

So etwas würde in Deutschland niemals passieren. Deshalb wurde ich, bevor ich nach Nicaragua kam, auch noch nie mit einer ähnlichen Situation konfrontiert. Natürlich verdienen die Menschen nicht viel, aber Dinge zu verschenken, macht es langfristig nicht besser – auch wenn die Versuchung noch so groß ist. Wenn ich ihm den Helm geschenkt hätte, hätte sich das herumgesprochen und am nächsten Tag wären drei mit einer Bitte zu mir gekommen. Und dann fünf, und dann zehn, …
Und so schleicht sich eine Haltung ein (wenn sie nicht schon längst da ist), dass man nur zum Chele gehen braucht, der hat’s dicke. Dieses Dilemma lässt sich auch auf das Thema Entwicklungshilfe übertragen, was dann einen ganz anderen Umfang einnimmt, als meine Helmgeschichte.

Was ich aber eigentlich damit sagen wollte, ist, dass ich mich mit der Zeit sicherer in diesem Land fühle, etwas vertrauter,  was, meiner Meinung nach, Grundvoraussetzung ist für den Umgang mit den Menschen.

 In diesem Sinne wünsche ich euch einen schönen März (der soll ja bekanntlich der schönste Monat des Jahres sein ;-) 

Alles Liebe,

euer Sasan



Die Wahl zum Lied des Monats fiel dieses Mal ziemlich schwer. Das neue Album von Kanye West ist meisterlich – trotzdem habe ich mich für „Alles auf Anfang“ vom neuen Album von Wir Sind Helden entschieden – wegen wunderbarem Deutsch und generell tollem Text. Musik geht so.

Wegen blöder Urheberrechtsverletzung wieder nur über den Proxy  http://4.hidemyass.com/ip-1/encoded/Oi8vd3d3LnlvdXR1YmUuY29t&f=norefer zu erreichen.