Freitag, 29. Oktober 2010

2. Monatsbericht


Hereinspaziert!

Ich sitze bei 28° halbnackt auf meinem Bett, das Netbook auf dem Schoß, Manuel singt Lady Gaga und schwelgt in Erinnerungen an vergangene Abipartys. Ein Haufen Taschentücher neben meinem Kopfkissen, der meinem vor 3 Tagen eingefangenen Jahrhundertschnupfen zuzuschreiben ist, komplettiert die verrückte Szenerie. Ich frage mich, wie es jetzt wohl in Deutschland sein mag. Sorgen letzte warme Sonnenstrahlen für einen versöhnlichen Jahreszeitenwechsel oder hat der Winter bereits begonnen, Deutschland zu versklaven?!

Der Blick aus unserem Zimmer, in genau diesem Augenblick
Vom einen Moment auf den anderen hämmern dicke Regentropfen auf das Wellblechdach unseres Zimmers und übertönen sogar die überlaute Bachata-Musik unserer Nachbarn. Tatsächlich, vor zwei Wochen sind wir ein Stockwerk höher gezogen. Die Wohnqualität hat sich dadurch aber leider nur marginal verändert; immer noch tragen zwei Wände Schimmel. Statt weich, flauschig und grau-grün ist er jetzt weiß und fest, wie altes Kaugummi. Jedenfalls genug Grund, sich nach einer schimmelfreieren Bleibe umzusehen.

ENTERATE!
Bei der Wohnungssuche erhalten wir tatkräftige Unterstützung von unseren Mitarbeitern in der Cuculmeca, denen wir, so scheint es, jetzt schon ans Herz gewachsen sind. Wenn ich im Büro bin, werde ich tatsächlich alle 2 Minuten von irgendwem angestupst, angetanzt, angegrinst, angesungen, angeschrieben oder angehandreicht. Diese Aufmerksamkeit, der ich zuteilwerde, wird mir regelmäßig nach ein bis zwei Stunden unangenehm, woraufhin ich mich ins benachbarte Technikerbüro zu Juan und Moises setze, die auch sehr freundlich aber etwas ruhiger sind. Meine Arbeit an sich hat sich mittlerweile etwas zum Positiven entwickelt: Ich bereite Dokumente auf, fasse zusammen oder begleite zu Seminaren. Meiner Meinung nach immer noch nicht die schönste Arbeit, aber immerhin eine, die ich kann.


Das Schulgebäude, vorbehalten jedoch den Grundschülern
Zusätzlich gebe ich seit drei Wochen ein Mal wöchentlich Englischunterricht in einer zwei Stunden mit dem Bus entfernten Schule. Die Kinder sind unheimlich interessiert und wissbegierig, machen alle ihre Hausaufgaben, geben ihr Bestes; so kenne ich das aus Deutschland gar nicht. Mir macht die Arbeit Spaß. Vor allem, wenn die 6-jährigen morgens an der Bushaltestelle warten, um allen Lehrern einen Begrüßungskuss auf die Wange zu geben. Oder wenn man nach der Schule ein Zettelchen zugesteckt bekommt, auf dem steht, dass das Kind glücklich ist, die Zahlen auf Englisch gelernt zu haben. Oder wenn man ein Interview mit einer US-amerikanischen Hilfsbrigade organisiert, um das Gelernte gleich in die Praxis umzusetzen.
Aus Platzmangel findet der Unterricht draußen statt
Ich habe jedenfalls viel vor mit meiner fast 40-köpfigen Klasse und versuche ihnen, bis zum Ende des Jahres wenigstens die Grundkenntnisse von Grammatik und ein paar Vokabeln beizubringen, auch wenn sie es höchstwahrscheinlich niemals brauchen werden, da  eine Schule, die zur Hochschulreife führt, viel zu weit entfernt ist und ein Studium sowieso viel zu teuer ist, als dass es sich auch nur einer meiner Schüler leisten könnte.

Trotz unzähliger Anfragen anderer Schulen, die auch gerne Englischunterricht anbieten würden, es aber schlicht und einfach keine Lehrer gibt, möchte ich es bei der dieser einen Klasse belassen und versuchen, an den restlichen Tagen (neben der Büroarbeit) eigene Projekte voranzubringen. Ich habe viele Ideen, die ich zwar noch ausarbeiten muss, aber möglicherweise meinem Freiwilligendienst einen Inhalt verleihen könnten, mit dem ich zufrieden wäre. Seid gespannt ;)

Neben der Arbeit (wir gehen morgens um 07:00 Uhr los und kommen abends gegen 18:30 Uhr nachhause) gibt es weiterhin nur wenige Möglichkeiten, sich zu entfalten. Meistens sind wir so geschafft vom Tag, dass wir nur noch Essen und Schlafen gehen. Von meinem Ziel, viel Sport zu machen und viel Gitarre zu spielen bin ich somit noch weit entfernt. Falls sich der Inhalt meiner Arbeit also nicht hin zum ‚selbstständigen Arbeiten‘ verlagern sollte, werde ich meine Chefin darum bitten, mir mehr Freizeit zu lassen.


Manuel und ich am Kratersee - im Hintergrund ein Vulkan
Wenigstens bleiben bis jetzt die Wochenenden zur freien Gestaltung verfügbar, die wir meistens auch voll und ganz nutzen. Ob wir nun in andere Städte fahren, auf Berge klettern, zu einem Kratersee wandern oder Freunde und Mitfreiwillige in der Hauptstadt Managua besuchen; wir sind fast immer unterwegs. Letztes Wochenende war insofern besonders, als dass wir beinahe ausgeraubt wurden, als uns um 4 Uhr nachts nach einem Discobesuch in Managua drei nette Herren mit Messern überfielen. Der Vorfall ereignete sich auf einer gut beleuchteten, befahrenen Straße, im Beisein von zwei nicaraguanischen Studenten. Einer der sichtlich verängstigten Messerdiebe hatte mich gepackt, ich wollte mich losreißen, dabei ist mein T-Shirt gerissen und ich bin aus dem Gleichgewicht geraten, sodass ich auf dem Boden lag und zurückwich (man stelle es sich vor wie bei Harry Potter II, als Harry am Ende gegen den Basilisken kämpft – der Unterschied ist, dass er das Schwert hatte, nicht ich). Glücklicherweise hat in diesem Moment ein Auto angehalten, woraufhin die Diebe geflüchtet sind. Mir geht es also gut, nur dem T-Shirt nicht, es war das mit der Schallplatte drauf, falls man sich erinnert. Herrje.
Im Nachhinein hätte ich vielleicht bereitwillig alles abgeben sollen um nichts zu riskieren, wer mich aber besser kennt, weiß, dass ich sowas niemals machen würde, falscher Stolz? Ich weiß es nicht. Gut ist, dass ich seitdem viel wachsamer bin, tags- und nachtsüber sehe ich überall potentielle Räuber und Banditen. Vielleicht hatte dieser Vorfall doch noch sein Gutes.

Meiner Meinung nach sind es solche Erfahrungen, die einen Charakter reifen lassen, wenn sie auch nicht  immer so krass und aufregend sind, wie es der Überfall war. Jeden Tag finde ich mich in Situationen wieder, die ich aus Deutschland so nicht kenne und die mich wachsen lassen, mir die Frage stellen: Sasan, wo stehst du auf der Welt?
Und um euch, liebe Leserinnen und Leser, diese Frage zu stellen, habe ich ein paar Schicksale aus meiner Umgebung herausgearbeitet, die euch veranschaulichen sollen, wie man die Herausforderung ‚Leben‘ auch, mehr oder weniger, meistern kann. Ohne Namen, ohne Fotos; alles andere wäre respektlos.

1.       Die Haushälterin
Jeden Donnerstag, wenn ich Unterricht auf dem Land gebe, fahre ich, obwohl mein Unterricht erst um 13:00 Uhr beginnt, bereits um 06:30, zusammen mit einer anderen Lehrerin, zur Schule. Sie unterrichtet ‚Módulos Tecnicos‘, ganz einfache Grundlagen für das Zusammenleben mit der Natur (á la „Warum soll ich keinen Müll in die Umwelt werfen?“). Die ersten Male habe ich am Unterricht teilgenommen, bald  fing er jedoch schon an mich zu langweilen, woraufhin ich immer öfter Spaziergänge in die umliegenden Kaffeplantagen unternahm. Gleich in der Nähe der Schule befindet sich eine Finca, deren Besitzerin ca. 3.500 Kaffepflanzen besitzt und die ausschließlich von der Ernte im November/ Dezember lebt. Die Besitzerin der Finca ist sehr gastfreundlich, bietet mir Essen & Trinken an, das ich nach anfänglicher Ablehnung aus Höflichkeit (ist hier alles andere als verbreitet) irgendwann doch angenommen hatte. Um die Gastfreundlichkeit nicht zu sehr auszureizen, wollte ich wenigstens mein Geschirr selber abwaschen, woraufhin ich in der Küche die 17-jährige Haushälterin kennenlernte, die den ganzen Tag für die Plantagenbesitzerin putzt, kocht und wäscht. Seit diesem Treffen verbringe ich die Stunden vor meinem Unterricht bei ihr in der Küche, helfe ihr soweit ich kann beim Kochen und erzähle ihr von Deutschland und umgekehrt. Als ich sie nach ihrem Gehalt gefragt hatte (hier gar kein Problem), sind mir fast die Augen ausgefallen: Monatlich verdient sie 300 C$, d.h. knapp 10€. Vorher arbeitete sie in einem Comedor (Imbiss) in Managua, wo sie in 1 ½ Jahren 1500 C$, d.h. 50€ verdiente. In 1 ½ Jahren.
Zusätzlich hat sie ein 3 Monate altes Kind, das von ihrem Mann stammt, der sich aus dem Staub gemacht hat – zu Unterhaltszahlungen ist man hier nur formell verpflichtet.
Angemerkt sei, dass sie keine Schulbildung genossen hat, da es dort, wo sie aufgewachsen ist, zu dieser Zeit keine Schule gab – sie kann folglich weder Lesen noch Schreiben, noch kann man ihr vorwerfen, sich in der Schule mehr angestrengt haben zu sollen.

2.       Der große Bruder
Mein Gastvater ist von Beruf LKW-Fahrer – er ist oft tagelang unterwegs, um Güter aller Art mit einem fürchterlich stinkenden LKW aus den 50ern durch das Land zu transportieren. Unterstützung erhält er dabei von einem 18-jährigen, ruhigen, unheimlich drahtigen Jungen vom Land, der die Nacht im LKW verbringt, um die Ladung vor Dieben zu schützen und für das Auf – und Abladen verantwortlich ist.
Dieser Junge ist wirklich still, redet kaum ein Wort mit uns, auch wenn er manchmal tagelang bei uns wohnt. Eines Abendessens fragte ich Gioconda, meine Gastmutter, nach seiner Lebensgeschichte:
„Er kommt aus Wiwili, ganz weit im Norden von Nicaragua und hat sage und schreibe 18 Geschwister. Vor etwa einem Jahr ist sein Vater gestorben, der die Familie ernährt hat, und da er der Älteste seiner Geschwister ist, liegt es nun an ihm, zusammen mit seiner Mutter die Familie zu versorgen. Seitdem arbeitet er ununterbrochen als Ladehelfer, spart eine bestimmte Summe an, um dann von dem Geld Essen für seine Geschwister zu kaufen. Dabei wird er pro Reise bezahlt, d.h. wenn es keine Aufträge gibt, verdient er nicht einen Cent."

3.   Die schlaue Schülerin
Jeden Donnerstag sticht ein 16-jähriges Mädchen in meiner Englischklasse besonders heraus. Nachdem auch mein dritter Erklärungsversuch bei manchen nicht gefruchtet hat, erklärt sie es nochmal in ‚nicaraguanischen‘ Worten. Wenn ich eine/n Freiwillige/n für einen Dialog suche, stellt sie sich immer zur Verfügung. Ihre Hausaufgaben gibt sie immer schon in der Stunde, in der ich sie aufgegeben habe, ab, und sie sind bis jetzt immer richtig gewesen. In allen anderen Fächern verhält sie sich genauso.
‚Eine schlaue Schlange‘ dachte ich mir, bevor ich mit der anderen Lehrerin über sie geredet hatte. Seit dem Gespräch, empfinde ich nur noch Bewunderung für sie. Es ist nämlich nicht so, dass sie den ganzen Tag Zeit hätte, sich auf die Schule zu konzentrieren – im Gegenteil: Ihre Mutter ist querschnittsgelähmt, ihre Geschwister arbeiten außer Haus und somit bleibt alle Arbeit an ihr hängen. Die Pflege ihrer Mutter, das Haus, das sie instand halten muss, das Essen, das sie kochen muss, … es ist fast unglaublich, was dieses Mädchen leistet. Nach dem letzten Unterricht kam sie, den Tränen nahe, zu mir und meinte, dass dieses Mal das letzte Mal gewesen sei, dass sie zum Englischunterricht käme - da sie nicht mehr wolle. Was ich ihr natürlich nicht abgekauft habe. Ich bin mir fast sicher, dass ihre Eltern sie, anstatt in die Schule, zur langsam anlaufenden Kaffeernte schicken möchten.

Welche Schlüsse kann man nun aus diesen Schicksalen gezogen werden? Diese Frage bleibt jedem selbst überlassen (ich freue mich über Kommentare/ Meinungen, die man mittlerweile auch ohne Anmeldung weiter unten hinterlassen kann). Mir haben sie vor allem eins gezeigt: Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt. Gerechtigkeit ist ein Ideal, etwas nach dem man streben kann, was aber mit der Realität oft wenig zu tun hat. Ist es gerecht, dass wir in Deutschland geboren sind und auch wenn wir nicht arbeiten, einen unendlich höheren Lebensstandard genießen als 99% der hart arbeitenden Menschen hier?

Dass man bekommt, was man verdient, ist eine Lüge.

Und wo man geboren wird, ist pures Glück – wobei wir in der Lotterie der kleinen Sternchen einen Hauptgewinn gezogen haben – ohne, dass wir etwas dafür getan hätten, natürlich.

Deshalb ist es für mich keine Frage, „Entwicklungshilfe“ zu leisten – um zumindest zu versuchen, einen ausgleichenden Effekt zu erzielen, um Chancen zu ermöglichen. Wer anderer Meinung ist, lade ich gerne ein, um zu sehen, wie ein 9-jähriges Mädchen um 5 Uhr morgens aufsteht um zwei Stunden Brennholz zu schleppen, bevor es, falls vorhanden, in die Schule geht.


Somit verbleibe ich wieder mit den besten Grüßen von der anderen Seite des ‚großen Teichs‘ - denjenigen, die mir diesen Aufenthalt ermöglichen, gilt natürlich nach wie vor ein ganz besonderer Dank.



euer Sasan





Das Lied des Monats ist diesmals ebenfalls etwas nachdenklicher als feucht-fröhlich. Gesungen von Mercedes Sosa, einer wahren Ikone in Latinoamerika, und Calle 13, die den meiner Meinung nach besten Hip-Hop-Raggaeton jenseits des Atlantiks machen, handelt es vom Leben der vielen Straßenkinder in ganz Lateinamerika – deren Alltag und unserer Verantwortung, für diese Kinder zu sorgen.