Dienstag, 25. Januar 2011

5. Monatsbericht

‚Nach Jinotega? Der ist gerade weg… aber wenn du willst, kannst du den mit dem Expressbus nach Matagalpa auf dem Weg abfangen. Sonst müsstest du 1 ½ Stunden warten, der Nächste fährt erst um 8:00.‘

‚Quatsch‘, dachte ich mir und freute mich schon auf ein bisschen Ruhe. Ich hatte gerade Ayla zum Flughafen gebracht, nur drei Stunden geschlafen und das letzte, worauf ich Lust hatte, war Stress. Die Frau am Schalter hingegen ging wohl, nachdem ich ihr einige Sekunden nicht geantwortet hatte, davon aus, dass ich kein Spanisch sprechen würde und wollte gerade einen zweiten Versuch starten, mir die Situation zu verdeutlichen, als ich abwinkte, mich für die Auskunft bedankte und den Reiserucksack in Richtung Wartehalle hievte. 
Terminal Mayoreo an exakt diesem Morgen
Ich setzte mich auf einen der wenigen freien, schwarzen Plastikstühle, holte meinen mp3-player aus der Hosentasche und suchte die Stelle bei ‚Harry Potter y el prisionero de Azkaban‘, bei der ich vor 3 Wochen aufgehört hatte. Kapitel 4 war es. Bereits nach 5 Minuten musste ich jedoch kapitulieren – meine Konzentration war ungefähr so gegenwärtig wie ein Aal in einem Schrank.

Stattdessen legte ich ‚I stand corrected‘ von Vampire Weekend auf, schloss die Augen, wandte mein Gesicht der aufgehenden Sonne zu und ließ meinen Gedanken und Gefühlen über die Reise freien Lauf.

Angefangen hatte es mit Weihnachten. Zuhause ist Heiligabend schon eher etwas Ruhigeres: Man geht vielleicht in die Kirche, isst zusammen, beschenkt sich und verbringt Zeit mit der Familie. In Nicaragua ist das ein bisschen anders. Hier macht man sich schick, betrinkt sich und feiert und tanzt bis um 3 Uhr morgens auf der Straße, wirft Böller (deren Zündschnüre ca. 0,01 Sekunden brennen), zündet Raketen, spielt Gesellschaftsspiele und besucht Freunde und Verwandte. Tatsächlich gab es einige, die Heiligabend damit verbracht haben, von einem Haus zum anderen zu wandern, zu essen, zu trinken und sich zu unterhalten. Als ich dabei an Weihnachten daheim dachte, musste ich wirklich anfangen zu lachen, nicht aus irgendeiner Wertung, sondern einfach aufgrund der Andersheit.

‚POLLO FRITO!‘ ‚ENSALADA DE FRUTAS!‘

Zwei Straßenverkäufer standen vor mir und wedelten mit Plastikbeutel voller Essen vor meiner Nase. Missmutig scheuchte ich sie mit unwirschen Gesten weg. ‚Manno‘, dachte ich mir, ‚war grad so schön‘, machte es mir wieder auf dem Stuhl bequem und schloss meine Augen.

Ausblick beim Fledermäuse-Vermessen
Nächster gedanklicher Halt war eine Vulkanseelagune, zu der Ayla und ich, auf Empfehlung der beiden schweizer Mitfreiwilligen, gleich am zweiten Tag ihrer Ankunft reisten. Dort fanden wir eine Biostation, die von einem texanischen Biologen geleitet wurde und in der zufällig auch zwei deutsche Freiwillige arbeiteten – die Silvester in San Juan del Sur am Pazifik feiern wollten, dem wir uns spontan anschlossen.


San Juan del Sur
Silvester war wunderbar. Den ganzen Tag über schien die Sonne, es war heiß und wir verbrachten den einen Teil am Strand, den anderen mit Vorbereitungen treffen für die Party am Abend. Glücklicherweise kamen wir bei ein paar holländischen Studenten unter, die Praktika in Nicaragua machten und sich für die Zeit über Silvester ein Ferienhaus gemietet hatten. Mit einer Menge Rum, Grillfleisch und Freude im Bauch machten wir uns um halb 12 (da wart ihr schon längst im neuen Jahr) auf in Richtung Strand, ich gebe zu, ich war relativ betrunken und widersetzte mich deshalb lautstark dem allgemeinen Gruppenwillen, in einer Disco am Strand ins neue Jahr zu feiern. Das Ergebnis war, dass ich allein im Sand saß.
Aber hey, es war sehr schön, ich hatte wieder meinen mp3-player mit und hörte gerade Beethovens Sinfonie Nr. 813 als ich auf die Uhr schaute und erschrak: 23:59:34 Uhr – fast 2011. Ich schaute auf und zwei blonde und, so schien es, noch betrunkenere Mädchen (es stellte sich später heraus, dass die eine Australierin und die andere US-Amerikanerin war), kamen lachend auf mich zugewankt. Also verbrachte ich Mitternacht neben diesen zwei Mädchen, bekam noch von jeder einen Kuss auf die Wange, bis die beiden weiterzogen. Die darauf folgenden 2 ½ Stunden hielt ich mich noch am Strand auf, schaute mir die Sterne an und sang,  bis ich zum Haus zurückkehrte und mich schlafen legte.

Sprung.

Ayla und ich saßen auf dem Deck der Fähre, die uns in 14 Stunden über den Nicaraguasee transportieren sollte, ließen die Beine baumeln und fuhren in den Sonnenuntergang – Ziel sollte der Grenzfluss Nicaraguas zu Costa Rica, der Río San Juan, sein, der bis in die Karibik führt. Da fragte Ayla plötzlich, ob ich glücklich sei.


Das Gespräch, das jetzt folgte, war sehr intensiv und gut und ich möchte es nicht in allen Einzelheiten erzählen, Fakt ist aber seitdem, dass wir nicht mehr zusammen sind. Wir hatten uns dazu entschieden, weil wir sahen, wie unsere Beziehung immer mehr zu einer Freundschaft wurde, woran auch ihr Besuch nichts ändern konnte. Seit diesem Zeitpunkt schien mir jedoch unser Umgang viel unkomplizierter und entspannter, was sich unheimlich positiv auf die darauf folgenden zwei Wochen auswirkte: Wir waren wie losgelöst, ein Herz und eine Seele. Fragt mich nicht, wie das so kommen konnte, es ist, wie es ist und ich bin sehr froh darüber. Vielleicht haben wir in dieser Phase unseres Lebens keinen Platz für einen Partner.

Sprung.

Export                                                     Import
Auf halbem Weg zu unserem Ziel, dem Karibischen Meer, konnten wir bei einer Freiwilligen aus – Trommelwirbel- KASSEL unterkommen, die in einem 800-Seelen- Dorf in einem Kakaoprojekt ihr Dasein fristet. Natürlich durften wir auch bei der Kakaobohnenzubereitung zusehen, was mich, als Vorstandsmitglied der MASA S.A. zu einer schrecklichen Erkenntnis führte: Es gibt qualitativ hochwertigeren Kakao, der allerdings nur für den Export bestimmt ist (die Kakaokooperative beliefert zum Beispiel Ritter-Sport), während der ´minderwertige´ Kakao für den nationalen Markt – also auch für die MASA S.A. – bestimmt ist. Das war natürlich ein Schock. Bei der nächsten Gelegenheit wird dieses Manko allerdings versucht zu beseitigen.

Am Río San Juan




Abgesehen davon fanden wir bei diesem Besuch einen gefiederten Freund, Carlito, einer Art Papagei, der sogar reden konnte und dem es außerordentlich gut auf meinem Kopf gefiel. Ich schließe nicht aus, dass er sich ein Nest bauen wollte.



Sprung.

Roter Giftfrosch
Ich hüpfte barfuß durch ein Naturreservat in der Nähe von San Juan del Norte (altes Piratenversteck mit mehr Gräbern als Einwohnern), das, nachdem es am Tag zuvor geregnet hatte, so überschwemmt war mit Mücken, dass selbst das Mückenspray keine Wirkung mehr zeigte. Am Ende der zweistündigen Tour, die sonst wunderschön war und uns wirklich mitten in den Dschungel führte, wo sonst nur Affen, Jaguare und rieeesige Ameisen leben, kam ich auf sage und schreibe 501 Mückenstiche, Bilder möchte ich hier nicht veröffentlichen, sie erinnern mehr an Hautausschlag als alles andere.


Sprung.

Absolut hochseetauglich
WUSCH - KRACH.
Das war in etwa der Soundtrack unserer 4 1/2 stündigen Fahrt von San Juan del Norte nach Bluefields (Nicaraguas größte Stadt an der Karibikküste), bei der wir mit 60 km/h über die Wellen fetzten. Bei WUSCH erhob sich das Boot über eine Welle, flog fünf Meter weit über die überraschend unruhige See, bei KRACH klatschte es in ein etwa zwei Meter tiefes Wellental, bevor man wieder hochgeschleudert wurde, und so weiter und so fort. Als der Kapitän (der anscheinend an Größenwahn litt, so eröffnete er doch die Verhandlung über den Preis der Überfahrt bei 700$, bis wir ihn auf 25$ pro Person herunterhandeln konnten) zu Beginn der Fahrt fragte, ob nicht einer von uns ganz vorne sitzen wollte, willigte ich ohne groß nachzudenken ein, was ich mein Magen und mein Hintern aber bereits nach 5 Minuten Fahrt stark bereuten. Vielleicht schon in Erwartung von Futter begegneten wir sogar einem Hai, der unter dem Boot kreiste, während der Kapitän nach brauchbarem Müll Ausschau hielt. Tatsächlich war ich überrascht, wie verschmutzt das Meer durch herumtreibende Joghurtbecher, Plastikeimer und Flaschen war. Wenn man sich vor Augen führt, wie groß die Karibik ist, kann man sich unschwer vorstellen, wie viel Müll dort noch lagert.

Ich blinzelte kurz und erschrak, ich wusste nicht wie spät es schon war – puh, erst 7:45, ich hatte also noch eine Viertelstunde. Mein Blick traf auf die zweier Mädchen, die direkt vor mir saßen und mir mit den Händen zu verstehen gaben, die Kopfhörer abzusetzen. Das Gespräch mit den beiden verlief in etwa so:

Mädchen: „Hallo, fährst du auch gleich nach Matagalpa?“
Ich: „Hi, nein ich fahr nach Jinotega, Matagalpa liegt aber auf dem Weg. Dann fahren wir aber bestimmt zusammen.“
Mädchen: „Ja. Weißt du was? Du hast total schöne Augen, die wechseln in der Sonne ihre Farbe! Bist du verheiratet?“
Ich: „Nein?“
Mädchen: „Hast du eine Freundin?“
Ich: „Ähh.. ja. In Deutschland.“
Mädchen: „Also eine Fernbeziehung?“
Ich: „Jap.“
Mädchen: „Fernbeziehungen klappen nicht. Ich hatte auch schon einmal einen Freund in Texas, aber es hat nicht geklappt, er war so weit weeeeg! Ich bin ihm dann irgendwann fremdgegangen.“
Ich: „Mhm.“
Mädchen: „Ist Deutschland weiter weg als Texas?“
Ich: „Jaaa, schon.“
Mädchen: „Willst du dich im Bus zu uns setzen?“
Ich: „Ehm, naja, ich bin ziemlich müde, hab die Nacht kaum geschlafen... aber wir sehen uns bestimmt wieder, irgendwann.“
Mädchen: „Oh okay, dann halt nicht.“

Sagte sie, nahm ihre Freundin, die die ganze Zeit über nichts gesagt hatte an den Arm und stolzierte davon. Ich machte es mir wieder bequem, schloss die Augen und flog ein noch einmal davon.

Ayla und ich sitzen mit einem nicaraguanischen Fischer und einer serbischen Kleinfamilie in einem Fischerboot. Wir befinden uns in der ‚Laguna La Perla‘, nördlich von Bluefields, und versuchen uns das Abendessen zu erangeln. Zugegeben, der Plan war ein anderer, wir wollten eigentlich auf die Karibikinsel ‚Corn Island‘, die aber leider nur 1x die Woche per Boot zu erreichen ist. Ein alter Seebär am Hafen von Bluefields versicherte uns jedoch, dass von ‚El Bluff‘ (kein Scherz), einer vorgelagerten Insel, täglich Garnelenfischer nach Corn Island fahren würden. Wie sollte es anders sein, entpuppte sich die Aussage des Seebärs als falsch, sodass wir zwei Tage hätten warten müssen, weshalb wir uns nach anderen Gefilden in der Karibikregion umschauten. Letztendlich fingen wir dann doch noch einen Fisch, der, frisch zubereitet und mit frischem Kokosbrot, mehr als köstlich schmeckte.
Von der Laguna aus fuhren wir dann schon zurück nach Managua, ich zeigte Ayla noch Jinotega, wir kauften eine wunderschöne, handgemachte Hängematte auf dem ‚Mercado artesanal‘ in Masaya und dann war es auch schon Zeit, Abschied zu nehmen. Die vergangenen drei Woche vergingen, wie alle Zeit in Nicaragua, unheimlich schnell und ohne auch nur die Möglichkeit zu haben, alles Erlebte zu realisieren. Jetzt, da ich schon fast eine Woche wieder zuhause bin, komme ich erst darauf, dass ich schöner die Zeit nicht hätte verbringen können.

 Und was würde mich zurück in Jinotega erwarten? Manuel war noch die gesamte nächste Woche mit seinem Papa unterwegs in Guatemala, das heißt, ich wäre das erste Mal seit 5 Monaten allein. Wirklich schön war das nicht. Selbst die 3 Staffeln ‚How I met your mother‘ von der anderen Kasseler Freiwilligen, Antje heißt sie, würden auch nur temporär Abhilfe schaffen (auch wenn sie wahnsinnig gut waren). Aber am 28. Januar würde ja schon das einwöchige Zwischenseminar, wieder am Pazifik, stattfinden, worauf ich mich schon sehr freute/ freue.


Und auf gar keinen Fall zu vergessen ist noch einmal ein Dank an alle Spenderinnen und Spender für die herzlichste Unterstützung - Vielen Dank.


Beste Grüße
von euerm Sasan


Lied des Monats ist 'I stand corrected' von Vampire Weekend, eine der wenigen Bands, von denen ich behaupten kann, dass jedes Lied gut ist. Einfach gut.