Montag, 27. September 2010

1. Monatsbericht










Liebe Freunde, Verwandte und Interessierte,



Es ist früher Morgen, 06:39 Ortszeit, für euch 14:39. Ein letztes Mal drehe ich meinen Kopf auf dem vor Feuchtigkeit klumpigen Kissen; die Kombination aus Leinenschlafsack und Kunstfaser-Decke aus dem Flugzeug vom Hinflug sorgen für genau die Temperatur, bei der man nie aufstehen möchte. Rauch steigt mir in die Nase. Es ist der mit Feuerholz betriebene Ofen, auf dem unsere Gastmutter Gallo Pinto (wörtlich: bemalter Hahn), kocht. Tatsächlich sind es aber Reis mit Bohnen, das Standard-Gericht in Nicaragua, das zu jeder Tageszeit, immer wieder aufs Neue frittiert, gegessen wird.
Gallo Pinto mit gelben Bohnen
Damit ich nicht nocheinmal das mittlerweile verhasste Piepen meines Handyweckers ertragen muss, stehe ich auf, schlüpfe in eine meiner beiden Hosen, streife mir eines meiner fünf T-Shirts über und schreite aus der Zimmertür. Ich muss lediglich den Kopf heben, um zu erkennen, dass Nebelschwaden die grünen Berge rund um Jinotega bedecken; der halboffene „Flur“ machts möglich. Meine Gastmutter Gioconda huscht an mir vorbei und nuschelt ein ¡Buenos Días!, ehe sie fleißig weiterputzt, näht, oder kocht. Da sie von Montag bis Freitag Grundschullehrerin ist, muss sie auch früh raus, selten schläft sie länger als 5 Stunden. Samstags studiert sie Sozialwissenschaften.


Unsere Küche mit Esstisch
Manuel, der Mitfeiwillige aus Gießen, mit dem ich mich sehr gut verstehe und der meist etwas früher aufsteht als ich, sitzt bereits auf seinem Plastikstuhl am Küchentisch und schlingt sein Gallo Pinto herunter. Schlingen ist wirklich das richtige Wort: Ich habe noch nie jemanden getroffen, der schneller isst als er. Nach dem Frühstück wasche ich mich mit Brunnen- oder Regenwasser, putze mir dir Zähne, packe meinen Rucksack (Regenjacke, Regenhose, Kamera, Vokabelheft, evtl. Notebook), bis wir uns gegen  07:15 auf unsere Fahrräder schwingen, um zur Arbeit zu fahren. Eins der beiden Fahrräder konnten wir vom Hausmeister, Carlos, leihen; das andere mussten wir auf dem Markt kaufen. 70$/60€ für ein Silber-Blau-Metallic-„Shimano“ -Fahrrad; leider haben Pedale und Gangschaltung nicht eine Woche überlebt. Neben der miserablen Qualität liegt dies vor allem an den mindestens ebenso miserablen Straßenverhältnissen. Geteert wird lediglich zwischen den größeren Städten, meistens bewegt man sich auf Steinen, Dreck und Schlaglöchern fort. Selbst in der Stadt. Zu allem Überfluss tun sich von Zeit zu Zeit etwa 1m breite und 3m tiefe Löcher auf, die zum Kanal führen. Wenn man bei Dunkelheit da reintappt/fährt, hat man wohl Pech gehabt.



Kühe und Bullen auf der Schnellstraße
Außerdem sind die Straßen gesäumt von Tieren und Müll. Es ist keine Seltenheit, dass plötzlich eine Kuh, ein Pferd, ein LKW-Reifen oder Straßenhunde und –katzen auf der Straße stehen. Aufmerksamkeit ist gefragt, auch mit den anderen Verkehrsteilnehmern. Da es kein Eisenbahnnetz gibt, weichen Pendler und Reisende auf alte, US-amerikanische Schulbusse aus, die zu Stoßzeiten so voll sind, dass man lustige Quetschgesichter an den Scheiben sehen kann. Das ohrenbetäubende Hupen der Busse reißt mich dann aber immer wieder unsanft aus meiner morgendlichen Traumwelt; es gilt ja sicher und zeitig anzukommen und es ist mittlerweile schon 07:25, fünf Minuten vor Arbeitsbeginn. Meistens sind wir sehr pünktlich, kleine Verspätungen stören hier aber oft auch keinen großen Geist. Man/Frau fragt sich sicherlich, in was für einer Organisation ich da eigentlich arbeite, eine kurze Erklärung folgt:

Die „Asosiación de Educación y Comunicación La Cuculmeca“ ist eine Non-Profit Organisation, die vor 20 Jahren von einer Deutschen und zwei Nicaraguanerinnen gegründet wurde und sich seitdem für eine bessere Lebensqualität der Bevölkerung und Umweltschutz im Departamento Jinotega einsetzt, mit besonderem Augenmerk auf Bildung. Der Name „Cuculmeca“ ist zurückzuführen auf eine regionale Heilpflanze, die mittlerweile vom Aussterben bedroht ist. Finanziert wird die Organisation ausschließlich durch Entwicklungshilfen aus Deutschland, den Niederlanden, Spanien und den USA, was ich persönlich als sehr problematisch sehe. Wenn diese Staaten ihre Entwicklungshilfe stoppten, was ja durchaus zur Diskussion steht, würden sich hier die Pforten schließen..

La Cuculmeca - Insgesamt fast 300 Mitarbeiter arbeiten
für Umwelt und Menschen in der Region
Mein Arbeitstag beginnt jedenfalls mit einer kleinen Runde durch die Cuculmeca, in der ich die bekannten (und unbekannten auch, ich kann sie noch nicht so unterscheiden) Gesichter begrüße und Smalltalk halte. Hallo, wie und weiter gehts. Am Ende komme ich dann in meiner „Abteilung“ an, die Enterate! heißt, so viel bedeutend wie Informier Dich!. Die Aufgabe meiner 19 Mitarbeiter ist, der Kinderarbeit in der Region entgegenzuwirken; leider ist es nach wie vor üblich, dass Eltern ihre Kinder statt in die Schule auf das Feld zu schicken, um beim Kaffeeanbau (dem größten Exportgut der Region), bei der Ernte, oder einfach Zuhause zu helfen. „Wir“ fahren in die Dörfer, halten Informationsveranstaltungen, besuchen Schulen, Schüler und Eltern um ihnen den Wert von Bildung nahezulegen. Außerdem werden die Schüler und Schulen mit Material unterstützt; ein Schulplatz ist zwar staatlich garantiert, Hefte, Rucksäcke, Stifte, Uniformen, usw. müssen jedoch privat organisiert werden, was den Haushalt der unglaublich armen Bauern im zweitärmsten Land Amerikas absolut überfordert. Tatsächlich müssen 50% der Bevölkerung des von Kriegen, politischer Instabilität und Vetternwirtschaft gebeutelten Landes mit weniger als 1$ täglich auskommen, die Arbeitslosigkeit liegt bei 70%.
Meinen Platz in der Abteilung habe ich bisher jedoch noch nicht gefunden. Bis jetzt habe ich lediglich meine Mitarbeiter auf ihren Touren begleitet, was einerseits schön ist, weil ich somit Land, Leute und Arbeit kennenlerne, andererseits aber auch frustrierend, weil ich selber nur sehr eingeschränkt helfen kann. Ich hatte mir wirklich viel in diesem Jahr vorgenommen (Projekte leiten, Unterrichten, etwas „bewirken“), bis jetzt bin ich davon aber leider noch weit entfernt – meine Aufgabe liegt momentan noch darin, mit meiner Kamera Fotos zu machen. Ich hoffe, dass sich mein Spanisch in den nächsten Wochen stark verbessert, damit ich endlich durchstarten kann.  Tatsächlich ist die Sprache bis jetzt die größte Hürde, man spricht hier leider kein Schulspanisch oder „castellano“. Viele Regionalismen, veränderte Grammatik und das Nuscheln vieler Menschen machen mir zu schaffen. Als Beispiel will ich ein ganz einfaches Beispiel nennen: Die Frage, Woher kommst du?

Auf Schulspanisch lautete sie: ¿De dónde eres tú?
In Nicaragua lautete sie: ¿De dónde sos vos?
Und verstehen tut man, weil das „s“ nicht ausgesprochen wird: ¿De dónde sobbó?


Schwierig also. Man muss viel nachfragen, darum bitten deutlicher und langsamer zu reden, was mir, als eine Person die immer alles sofort können will, schwer fällt. Manchmal reden die Leute auf mich ein, ich verstehe kein Wort, sage aber auch nichts, weil ich ich zu stolz bin, zuzugeben, dass ich es nicht verstanden habe. Ich weiß, muss ich ändern.
Für den Alltag reichts mittlerweile aber größtenteils; die Relativitätstheorie kann ich aber noch nicht erklären (nicht, dass ich es nicht versucht hätte).


Coole Disneyfilme
Gegen 18:00 Uhr begeben wir uns dann auf den Heimweg, wieder auf dem Fahrrad. Mittlerweile ist es dunkel geworden, die hell erleuchteten Wohnzimmer, deren Türen fast durchgängig offen sind, ermöglichen einen Blick auf das Mobiliar. In fast jedem Wohnzimmer befindet sich mindestens ein Fernseher , sowie ein Altar für den allmächtigen Herren, stellvertreten durch Plastikfiguren und Poster. An einer Straßenecke verkauft ein ärmlich aussehender Mann DVDs. Teilweise Filme, die noch gar nicht im Kino waren, für umgerechnet 20 Cent, Wiedergabequalität schwankt. Woher ich das weiß, ist ein Geheimnis, denn ich unterstütze Raubkopien, wie ihr wisst, nicht.
Unsere "Stammpulpería" an der Ecke


Manchmal halten wir noch an einer sog. „Púlperia“, einem kleinen Kiosk, der in das Wohnzimmer integriert ist. Viele Nicas sind auf diesen kleinen Zusatzverdienst angewiesen, sodass man sich, bequemerweise, fast alle 200m günstig mit dem Nötigsten versorgen kann. Kekse, Trinkwasser (das in 1,5l Flaschen teurer ist als Cola, unglaublich) und Früchte erweitern somit das auf die Dauer etwas eintönige Essen in der Gastfamilie. Selbst sein Handyguthaben aufladen kann man, was in Nicaragua etwas anders läuft als in Deutschland. Man zahlt seinen Wunschbetrag, der anschließend auf das Guthabenkonto geladen wird. Um das Geschäft anzukurbeln, lässt es sich der reichste Mann der Welt allerdings nicht nehmen, das Guthaben nach 1-2 Wochen verfalllen zu lassen. Die Gebühren sind zudem beträchtlich: Pro SMS/Minute bezahlt man 20 Cent, für den Durchschnittsnica viel zu teuer.

Zuhause angekommen, gibt es meist schon Essen. Einfaches, immer frittiert oder hoffnungslos weichgekocht und immer mit mindestens doppelter Portion Kohlenhydrate. Manchmal gibt es Reis, Kartoffeln und Tortilla (Maisfladen)!. Fleisch gibt es so gut wie nie, auch wenn ich es mittlerweile ab und zu wieder esse..., was meinem Körpergewicht mehr als gut tut. Die 6 Kilogramm, die ich während meiner Vegetarier-Ära abgenommen hatte, sind bereits nach 4 Wochen fast wieder drauf. Diesen Kohlenhdydraten und Proteinen versuche ich so oft wie möglich im örtlichen Gangster-Hip/Hop-Raggaeton-Fitnessstudio Form zu verleihen; ich habe nämlich Angst, dick zu werden.
So verbringe ich also meinen Feierabend. Oder in der einzigen Discothek, in der ausschließlich zu Salsa/Merengue/Bachata getanzt wird. Wie ihr wisst, kann ich das alles nicht, ich hampel einfach mit. Gemütlicher geht es in der „Taverna“ zu, in der man in Gesellschaft Bier (schmeckt hier wie Wasser) oder Rum (der zu den besten weltweit gehören soll) trinkt, lacht und plaudert. Leider gehen wir bis jetzt nur mit Mitarbeitern der Cuculmeca weg, gleichaltrige Freunde haben wir noch nicht gefunden. Das liegt daran, dass die jungen, nicht-drogennehmenden Menschen, nachdem sie die Schule beendet haben, in die größeren Städte ziehen; Jinotega hat keine Universität.


Außerdem vermisse ich meine Theatergruppe in Kassel. So sehr, dass ich jeden Montagabend in eine Selbsthilfegruppe gehe, in der Familienprobleme so gelöst werden, dass man sich nach Einleitung in die verschiedenen Charaktere hineinversetzt und seine Gefühle äußert/ zur Schau stellt. Nennt sich übersetzt „Aufstellung“ und ist, wenn ihr mich fragt, absoluter Humbug. Wenn man es aber ernst zu nehmen versucht, ist es fast wie Theater.
 La Casa Gioconda


Die Gastfamilie ist in ihrer Abendgestaltung leider ziemlich einfallslos. Meistens laufen Telenovelas, die so unterirdisch schlecht sind, dass ich sie nichteinmal unter dem Vorwand Spanisch lernen zu wollen aushalte. Schön ist,dass sich unsere Gastmutter gut um uns kümmert. Täglich fragt sie, wie unser Tag war, gibt uns Einblicke in die nicaraguanische Kultur und Küche. Der Gastvater ist auch freundlich und lustig, wobei ein Macho, wie er im Buche steht. Ich habe besonders eine Szene, ziemlich am Anfang unserer Zeit hier, von ihm in Erinnerung: Abendessen, Manuel und ich sitzen am Tisch, Ricardo, so heißt er, hat sich soeben eigenhändig eine Glatze rasiert , tritt oberkörperfrei (gut beleibt) in die Küche, spuckt in den freiliegenden Abfluss, klopft mit dem Zeigefinger auf seinen Teller und knurrt: „Tacooo“.
Auch zur Familie gehören die Oma, die sehr herzlich und nett ist, die 17-jährige Tochter  namens „Darling“, die in Managua studiert und nur am Wochenende nachhause kommt, Giocondas Schwester Jasmina, die in einer Gärtnerei 30km entfernt von Jinotega arbeitet, sowie der Hund „Oso“ (Bär), der tagsüber schläft und nachts Katzen tötet (kein Scherz).
Was mich am Haus stört ist weder der nicht-vorhandene Wasseranschluss (Hahn und Toilettenspülung funktionieren nicht, man gewöhnt sich aber schnell dran) noch der Killerhund, noch die vielen ungewollten Mitbewohner (Fliegen, Mücken, Mäuse, Kakerlaken, ..)sondern der Schimmel. ALLES schimmelt, selbst Plastiksachen und Stein, wie Reisepass, Kulturbeutel, Rucksack und Wände. Wir mussten bereits 3x alles „entschimmeln“, da habem wir keine Lust mehr drauf, ganz abgesehen von möglichen Krankheiten/Allergien,  die durch den Schimmel verursacht werden. Deshalb sind wir bereits in Verhandlung mit der Familie getreten, das obere Zimmer, in dem Jasmina und Darling am Wochenende schlafen und das immerhin ein Fenster hat und einen Boden und nicht teilweise unterirdisch liegt, zu beziehen. Ich hoffe, dass das klappt.

Letztendlich sitzen wir jeden Abend auf unseren Betten, erzählen uns vom Arbeitstag, essen Kekse und lernen die Vokabeln, die wir heute neu gelernt haben.




Alles in allem ist mein erster Eindruck hier zu facettenreich um ihn in wenigen Sätzen ausdrücken zu können. Ich sauge nach wie vor alles in mich auf was ich sehe, höre und fühle. Auf jeden Fall ist es aber das, was ich wollte.
Gesundheitlich geht es mir im Allgemeinen ziemlich gut. Vor Durchfall und Infekten bin ich bis jetzt weitestgehend verschont geblieben. Das kann auch ruhig so bleiben.

Das war also der erste Monatsbericht, viel zu kurz, unvollständig und trotzdem 6 Seiten lang. Ich habe kaum ein Wort über die Landschaft, die wirklich traumhaft schön ist, verloren, nicht von meiner Pazifikreise in der 3. Woche berichtet (die Bilder sprechen bereits Bände), so gut wie nichts von der einheimischen Küche (die auch sehr lecker sein kann) erzählt, weder von der Mentalität nicaraguanischer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener, und so weiter uns so fort. Aber es wird ja noch weitere Monatsberichte geben und ich will nicht alles vorwegnehmen ;)


Vielen Dank für Nachrichten, Gedanken und eure Unterstützung. Ich bin wirklich wahnsinnig dankbar, dass ihr mir das ermöglicht habt.



Kommentiert und fragt was das Zeug hält, ich werde, soweit es geht, zurückkommentieren.



Beste Grüße,
euer Sasan





Das Lied des Monats, das jeden Monatsbericht begleiten wird, ist diesmal von Madsen und heißt „Ich rette die Welt“. Ich habe es ausgewählt, weil es meine Euphorie und meinen Tatendrang besonders vor meinem Freiwilligendienstes widerspiegelt.






P.S.: Ich habe noch eine Information/Anliegen/Bitte/ an euch:
Als erfahrene Grundschullehrerin wählt meine Gastmutter Gioconda die begabtesten/intelligentesten Schüler des Departamento Jinotega aus, um sie auf die beste Schule des Landes zu schicken. Die Schule wird vom Staat finanziert, Dinge wie Kleidung, Schulsachen, Essen, etc. müssen jedoch, wie in den anderen Schulen auch, privat finanziert werden. Da sich die Schule aber weit entfernt ,in der Nähe von Managua, befindet, steigen die Kosten natürlich und ein Kind braucht ca. 50€ im Monat, um sich die einfachsten Schuhe, Schulsachen, Schuluniform zu leisten. Die Eltern können leider Gottes nicht für diesen Unterhalt aufkommen.
Wenn ihr euch vorstellen könnt, ein Patenkind zu übernehmen und ihm/ihr möglicherweise die Chance seines/ihres Lebens geben wollt,  bitte ich Euch, Kontakt mit mir aufzunehmen(sasan.nica@googlemail.com). Selbstverständlich werden auch Teilbeträge entgegengenommen und ich garantiere dafür, dass das Geld bei den Kindern ankommt. Danke.