Mittwoch, 27. Juli 2011

11. Monatsbericht


El 19. de Julio...

212 Busse schießen hintereinander die Schnellstraße nach Managua entlang, zum bersten gefüllt mit angetrunkenen, Revolutionslieder-grölenden und Fahnen-wedelnden Anhängern der Regierungspartei FSLN. Zehntausende Menschen aus allen Departamentos sollen sich an diesem Tag in der Hauptstadt einfinden um den Tag der geglückten Revolution zu feiern, dieses Jahr vielleicht noch opulenter als die Jahre davor, denn es ist Wahljahr und die Massen müssen mobilisiert werden. Dass Massenveranstaltungen dafür ein probates Mittel sind, ist dem Deutschen ja nichts Neues…

Neben der nicaraguanischen Flagge sind auch noch einige andere vertreten...


Aber was hat es mit dem 19. Juli auf sich?

Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein bisschen weiter ausholen. Genauer gesagt, bis ins Jahr 1502…

Achtung
Geschichtsmuffel können unbesorgt runterscrollen. Mit mir hat die Abhandlung nichts am Hut.

Dich interessiert es doch? Sehr gut! Dann auf!

Also, wir waren im Jahr 1502, dem Jahr, in dem Nicaragua von Christopher Kolumbus entdeckt und auch gleich in den Besitz der spanischen Krone genommen wurde. Die Folgen für die indigene Bevölkerung waren natürlich, wie im Rest Lateinamerikas auch, katastrophal. Versklavung, Christianisierung und Deportation hielten ein.


Eine Reiseroute mit verheerenden Folgen
Dieser Zustand hielt sich bis 1821, als die Welle von Unabhängigkeitserklärungen gegen das von Napoleons Feldzügen gebeutelte Spanien auch Nicaragua erreichte. Wahre Unabhängigkeit war jedoch nicht die Folge, vielmehr machten die USA in den folgenden Jahren immer mehr ihre Interessen in Nicaragua geltend, da, so komisch es auch klingen mag, der schnellste Weg von der Ost- zur Westküste über Nicaragua führte. 

Somit setzten die USA eine Reihe von Marionettenregierungen ein, bis sie im Jahre 1933 nach verlustreichen Kämpfen mit einer Guerillatruppe unter General Sandino im Norden des Landes einen Diktator namens Somoza samt ergebener Nationalgarde hochzogen, der sich stark autoritär bis ins Jahr 1979 im Amt hielt. Im bald darauf folgenden zweiten Weltkrieg schlug sich Somoza trotz zuvor bekundeter Sympathien für die italienischen und deutschen Faschisten 1943 auf die Seite der Alliierten, was ihm Gelegenheit gab, die vielen deutschen Plantagenbesitzer zu enteignen (tatsächlich sind viele Kaffeeplantagen hier im Norden von Deutschen gegründet worden, wie zum Beispiel die Selva Negra, auf Deutsch Schwarzwald). 
Ein schwäbisches Bauernhaus inmitten der Berge Nicaraguas

Durch Deals mit den USA verschaffte sich die Diktatur unter Somoza außenpolitische Immunität, während innenpolitisch mit Peitsche regiert wurde. Opposition und Kritik wurde nicht geduldet und bis auf den Tod verfolgt, wie die Ermordung des Unabhängigkeitskämpfers Sandino 1934 beispielhaft zeigt. Dieses Zusammenspiel ließ Nicaragua in den Jahren von 1933 bis 1979 allerdings wirtschaftlich stark voranschreiten, noch heute schwärmen viele Ältere hier von den „guten Zeiten“, als der Nicaraguanische Córdoba noch mehr Wert war als der US-Dollar.

 Aller Gefahren zum Trotz erhob sich das Volk, angeführt von den selbsternannten Erben der Ideologie Sandinos, den sog. Sandinisten, gegen die Regierung. In einer blutigen, zweijährigen Revolution, während der über 30.000 Menschen ihr Leben ließen, konnte die Somoza-Regierung an eben jenem 19. Juli 1979 endlich aus dem Land gejagt werden…

Die Sandinisten, die sich auf einen Sozialismus mit christlichen Grundwerten stützten, konnten in den ersten Jahren ihrer Regierungszeit mit Daniel Ortega als Präsidenten auch große Fortschritte in den Bereichen Bildung und Gesundheitswesen vorbringen. Aus Sympathie für die sandinistische Revolution kamen auch viele Deutsche Freiwillige in diesen Jahren nach Nicaragua, wie auch die Chefin der La Cuculmeca, der Entwicklungsorganisation, in der ich arbeite.
Die Jahre des Friedens währten aber nicht lange. Bereits in den frühen 80er Jahren begannen die Vereinigten Staaten unter Ronald Reagan, der wohl fürchtete, nach Kuba auch Nicaragua an die „Kommunisten“ zu verlieren, Contra-Rebellen mit Waffen, Geld und Ausbildung zu unterstützen. Diese Contras terrorisierten die Landbevölkerung, legten Minen (nördlich von Jinotega hin zur Grenze nach Honduras gibt es immer noch viele verminte Gebiete), verbrannten die Ernten – kurzum, taten alles, um das Land und insbesondere die Regierung zu destabilisieren.

10 Jahre Terror und Wirtschaftsembargos gingen natürlich nicht spurlos an der Bevölkerung vorbei. Der Unmut gipfelte 1990 in der Abwahl der sandinistischen Regierung – an ihre Stelle trat ein Zusammenschluss von 14 konservativ-liberalen Parteien, der ein Ende des Contra-Krieges und breiten Wohlstand versprach. Die Wirtschaft wurde tatsächlich in den folgenden Jahren mit Hilfe einer Reihe von Maßnahmen wie Privatisierungen oder Sozialkürzungen modernisiert, was aber nicht wirklich bei der Bevölkerung für mehr Wohlstand sorgte, sondern eher den Eliten die Gelegenheit gab, sich die Taschen vollzustopfen, in etwa wie in Deutschland heute, nur noch offensichtlicher. Als Beispiel kann der damalige Präsident Arnoldo Alemán angeführt werden, der selbst die Hilfszahlungen der internationalen Gemeinschaft veruntreute, die nach dem Hurricane Mitch, der im Jahre 1999 weite Gebiete Nicaraguas verwüstet hatte, gespendet wurden.

An Opportunismus mangelte es aber auch den sandinistischen Führungselite nicht – zwischen Abwahl und Amtsübergabe im Jahr 1990 ließen sie eine Menge Staatsbesitz auf sich umschreiben, was hier zynisch unter dem Begriff Piñata (siehe Monatsbericht März) bekannt ist.


Situation heute

Insgesamt haben sich die beiden Blocks – Sandinisten und Liberale – in den letzten 20 Jahren immer mehr angeglichen. Das zeigt auch die Wiederwahl der Sandinisten im Jahr 2006, bei der wieder der Sandinistenpräsident von vor 20 Jahren mit 38% der Stimmen ins höchste Amt rückte und in Folge derer die sehr weit verbreitete Korruption und Opportunität kein bisschen zurückgegangen ist. Bildung und Gesundheitsversorgung sind zwar wieder kostenlos, aber in einem erbärmlichen Zustand. Als ich beispielsweise vor einigen Monaten einen Englischschüler von mir im Krankenhaus besuchte, bekam ich mit, dass die Menschen teilweise zu mehreren Personen in den Krankenbetten liegen, die manchmal sogar nicht einmal eine Matratze haben. Außerdem ist nur die ärztliche Versorgung kostenfrei – Verpflegung und Medikamente müssen selber bezahlt werden.

Mit knalligem Pink und Microsoft-Word Schrift gehen die
Sandinisten auf Stimmenfang
Mitglieder der regierenden Partei genießen dabei noch einige Vorteile. Ihnen werden beispielsweise Rinder, Wellblech und Saatgut geschenkt – so lange, bis die oppositionelle Partei am Ruder ist, die wiederum ihren Wählern bevorzugt unter die Arme greift. Dieser Klientelismus geht so weit, dass momentan allen Nicht-Regierungsparteimitgliedern keine Personalausweise ausgestellt werden, die aber natürlich notwendig sind, um wählen zu gehen.

Das hat sich Señor Sandino unter Freiheit und Demokratie sicher nicht vorgestellt.


Ein Blick in die Zukunft

So sehr ich mir auch wünsche, dass es nicht so wäre, fällt meine Einschätzung eher negativ aus.
Die beiden Parteien haben es sich tief im Kaninchenfell bequem gemacht und locken die Bevölkerung mit billigen Bonbons zu sich nach unten, während sie sich die fetten Pralinen reinfahren und dabei sogar noch parteiübergreifend kooperieren.  Hauptsache, der eigene Hintern ist im Trockenen.
In der Bevölkerung ist derweil alles andere als Aufbruchsstimmung zu spüren. Man schimpft zwar über die Politiker, ist aber insgeheim mehr damit beschäftigt, für sich selbst und seine Familie das größte Stück vom Kuchen abzubekommen.

In den Köpfen der Menschen muss einiges passieren, damit sich Nicaraguas Zukunft merklich von der Gegenwart abhebt. Entwicklungshilfe kann dabei einen Teil leisten, die Initiative muss aber aus der Bevölkerung, vor allem aus der jungen, kommen.



Für mich persönlich verlief der Monat Juli bis auf ein paar Highlights ziemlich ruhig. Wir sind wieder Wanderwege abgelaufen, haben viel gekocht, Gitarre gespielt, Sport gemacht, die eine Übersetzung hier erledigt, den anderen Bericht dort geschrieben, nichts Neues. Ein Wochenende habe ich mit den Schweizern in León, einer alten Kolonialstadt am Pazifik, verbracht, was sehr schön war und mit einem morgendlichen Schwimmbadbesuch (!) gekrönt wurde.

Nicht so schön ist, dass mein Computer vor einigen Tagen von einem Virus befallen wurde, mit dem Ergebnis, dass eine Menge Fotos, Musik und Dokumente verloren gegangen sind. Gott sei Dank war nichts wirklich Wichtiges dabei, ärgerlich und vor allem unnötig ist es trotzdem.

Neben diesen Kleinigkeiten habe ich mir ein neues Ziel gesetzt: Durch die USA reisen. Ich habe das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten nicht mehr lange das sein werden, was sie noch sind, die dominierende Macht in Dingen Kultur, Wirtschaft, Politik, …
Und solange sie das noch ist, muss ich sie mit eigenen Augen gesehen haben. Nachdem ich wieder in Deutschland bin, wird also gespart, im Sauseschritt, das Ziel im Blick!

Doch auch meine Vorfreude auf Deutschland wächst von Tag zu Tag. Ich habe das Gefühl, ich muss weiter, Nicaragua reizt mich nicht mehr. Aber es fehlt ja auch nicht mehr viel!

Ich wünsche euch allen einen schönen August,
den nächsten und letzten Bericht schreibe ich dann schon in Deutschland.

Mit den besten Gedanken
Euer Sasan



Passend zum Thema ist diesmal das Lied des Monats ein altes nicaraguanisches Revolutionslied, La Tumba del Guerillero, Das Grab des Guerillero. Es werden darin die Heldentaten der gestorbenen Revolutionskämpfer besungen, dass sie niemals vergessen werden und für immer bei uns bleiben. Dazu gibt es eine Diashow zumeist mit Bildern aus der Revolution. Beste Voraussetzungen also um 5 Minuten in Nicaragua abzutauchen...