Montag, 27. Juni 2011

10. Monatsbericht

Ich klammere mich verweifelt an die rissigen, ledernen Zügel und beuge mich nach vorne, um ein wenig Stabilität auf dem Rücken des durchgedrehten Pferdes zu erlangen – vergebens. Innerlich mache ich mich schon auf den Sturz in vollem Gallopp bereit, als…

das Pferd endlich an Geschwindigkeit verliert. Ich werfe einen Blick nach hinten und sehe die Hunde, immer noch kläffend, in einiger Entfernung mit dem Schwanz wedeln. „Alles ist gut, Jens“, flüstere ich dem Pferd zu, dessen Herz aber sicherlich nicht halb so schnell schlägt wie meins.




Erst vier Stunden später soll ich erfahren, dass ich meine erste Reiterfahrung auf einem Hengst namens Satan gemacht habe. Wie ich zu der Ehre kam?




Kartenaufzeichnungen im Norden Nicaraguas

Mein Freiwilligenkollege Manuel hatte durch Eigeninitiative einen Kartenmacher aus Deutschland nach Jinotega gelockt, um dort eine ausführliche Karte, die auch touristisch nutzbar sein soll, zu erstellen. Das Projekt ist nun in vollem Gange und Manuel ist gut eingespannt, mit möglichen Unterstützern in Verhandlungen zu treten oder Gegenden mit touristischem Potential zu erkunden.
Und da sich meine Beschäftigung, Interviews zu praktischen Veränderungen im Leben der Landbevölkerung durch geleistete Entwicklungshilfe ihrem Ende zuneigt, beschloss ich, Manuel bei dieser Aufgabe zur Seite zu stehen.
Diese führt uns in entlegene Gebiete, in die sich bisher nur wenige Touristen verirren, was wir ja ändern möchten – wie an besagtem Tag im Naturreservat Miraflor im Departamento Estelí, wo wir auf Empfehlung einer hiesigen Finca einen 60m hohen Wasserfall finden sollten. Der Weg dorthin sei jedoch zu Fuß schwer zu schaffen, weshalb man uns nahelegte, auf Pferden zu reiten. „Wird schon nicht so schwer sein“, dachte ich mir und begab mich hoch zu Ross. Nach kurzer Einführung, in der erklärt wurde, wie man lenkt, Gas gibt und bremst, fühlte ich mich unweigerlich ans Autofahren erinnert – ein lebendiges Tier ist dann aber doch noch ein wenig anders, es ist ein bisschen bockiger.

Naja, jedenfalls verlief sonst alles glimpflich und ich konnte ohne Blessuren wieder zurück nach Hause, eh, Jinotega kehren. Der Wasserfall war auch wunderschön und er wird sicherlich auf der Karte verzeichnet werden.




Montse…

Die Crew beim Basketball Spielen
Den Teil der Arbeit, den wir nicht unterwegs verbringen, sind wir bei Los Pipitos, den Pimpfen, einer auch von Entwicklungshilfe aus Holland finanzierten Einrichtung, die sich der Betreuung und Förderung von behinderten Menschen aller Altersklassen verschrieben hat. Und auch wenn die Arbeit manchmal wirklich lustig ist, werde ich immer müde dabei. Wie zum Beispiel, wenn ich 20 Sekunden warten muss, bis Montse, die einen Gehirnfehler hat, in irgendeiner Form auf eine Frage reagiert.
Jedenfalls habe ich jetzt eine Menge Respekt vor der Geduld der Betreuer, die täglich mit behinderten Menschen arbeiten.


Und Cut.

Durch selbstständige Zeiteinteilung bleibt bei der ganzen Arbeit aber auch noch genügend Raum für Freizeit, die wir zwar relativ zurückgezogen, aber dennoch produktiv nutzen. Zum Beispiel bin ich an der Erarbeitung eines Ernährungs- / Kochbuchs, in dem neben sämtliche Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelementen auch alle anderen bekannten Bestandteile der Nahrung aufgeführt sind, welche Aufgabe sie haben und in welchen Lebensmitteln sie zu finden sind. Dieses zusammen mit einem Fitnessbuch, in dem ein paar Erkenntnisse zu Kraft- und Herz-Kreislauf-Training zusammengestellt sind, soll auch im Studium einen fitten Sasan garantieren!
Außerdem habe ich angefangen ein Traumtagebuch zu führen. Manuel muss dann eben am nächsten Morgen immer herhalten und sich meine nächtlichen Ausflüge anhören.

Noch mehr Zeit, um nicht zu sagen all unsere Restfreizeit, stecken wir in die Entwicklung eines Films über unsere Erfahrungen hier in Stop-Motion (Sandmännchen-Style). Das ist echt aufwendig, bis jetzt haben wir schon ca. 2400 Fotos geschossen, ganz zu schweigen von der Nachbereitung, Schnitt und Vertonung. Bis zum Abschlussbericht gedenken wir aber fertig zu sein, sodass auch ihr ihn zu sehen bekommt.


Szenenwechsel.

Nun kommen wir noch einmal zu einem Thema, das mir sowieso, aber grad vielleicht noch mehr als sonst am Herzen liegt.

„Wir rufen deshalb auf: zu einem friedlichen Aufstand gegen den Missbrauch der Massenkommunikationsmittel und der Verführung unserer Jugend zum Massenkonsum, der Verachtung der Schwächsten und der Kultur, der kollektiven Amnesie sowie der maßlosen Konkurrenz  – Jeder gegen Jeden.“

Ein echter Republikaner
Das ist ein Zitat aus dem Büchlein „Empört Euch!“ von Stéphane Hessel, einem mittlerweile 93 Jahre alten ehemaligen Kämpfer der französischen Résistance und gleichzeitig letzter noch lebender Mitverfasser der universellen Menschenrechte. In seinem 14-seitigen Essay ruft er zu mehr zivilem Ungehorsam und Engagement im Zusammenhang mit politischen Themen aller Form und Farbe, von Sozialabbau über den Umgang mit der erst kürzlich „überwundenen“ Finanzkrise bis hin zu  Diskriminierung von Ausländern auf. Nicht sonderlich ausführlich, aber mit einer Botschaft im Sinne aller verantwortungsbewussten Menschen.

In diesem Zusammenhang muss ich diesen Monatsbericht auch einmal dafür nutzen, meinem Unmut über die letzten Geschehnisse in der (Finanz)Welt Luft machen, denn diese schlagen mir selbst hier in Nicaragua, wo Weltpolitik in den Köpfen der Menschen nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt, gewaltig aufs Gemüt.

Beispiel: Griechenland und die Euro-Krise
Dem Süden Europas, und in nicht allzu langer Zeit auch dem Norden, geht ja gerade völlig überraschend finanziell die Puste aus. Als „ausweglos“ wird uns dabei die Rettung lügender und korrupter Staaten in Form von Bürgschaften und Sofortzahlungen in Höhe von hunderten Milliarden Euros verkauft, während die wahren Gewinner in diesem Spiel mal wieder die Finanzinstitute sind, die sich zwar anscheinend in risikoreichen Wertpapiergeschäften verzetteln können, den Preis dafür aber nicht zahlen müssen. Wieso gehen Banken, die schlecht wirtschaften, nicht Pleite? Weil sie zu groß sind? Dann dürfen sie doch nicht noch weiter wachsen und somit ihren enormen, jetzt schon fast alles umfassenden Einfluss weiter ausbauen!

Ganz zu schweigen von der Hand voll Ratingagenturen, die die Zinssätze, zu denen sich Länder weltweit Kredite auf dem Finanzmarkt besorgen, maßgeblich bestimmen. Dass diese völlig objektiv und unabhängig handeln, steht ja auch absolut außer Frage.

Herrje, so ein Durcheinander. Ich möchte nicht behaupten, dass ich viel Ahnung von der Materie hätte, aber hier merkt doch jeder Laie, dass die Sache oberfaul ist und von allen Seiten Klientelpolitik betrieben wird. Höchstwahrscheinlich endet die ganze Geschichte wieder in einer heftigen Inflation, die die riesigen Schuldenberge mit einem lauten Krach in sich zusammenstürzen lässt. Hoffentlich haben bis dahin so viele Sparer wie möglich ihre Schäfchen ins Trockene gebracht.

Meiner Meinung mach muss mehr Misstrauen gegenüber den Reichen und Mächtigen, Ackermännern, Merkels und Springern herrschen. Wir dürfen uns von einschlägigen Medien, Regierungen und Finanzinstituten nicht zum Narren halten lassen. Und warum nicht demonstrieren gehen? Die Vorfälle in Arabien, Spanien, Griechenland und auch Deutschland (Stuttgart21) sind ja auch nicht erfolglos geblieben.

Das Schlimmste, was man in unserer Lage tun kann, ist Gleichgültigkeit gegenüber den Geschehnissen vor unserer Haustür zu zeigen.

 „Neues schaffen heißt Widerstand leisten, Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“



Ich wünsche euch einen schönen Juli,

euer Sasan


Nicht zu vergessen: Zur beliebten Auszeichnung "Lied des Monats" hat es diesmal der Italiener Lorenzo Jovanotti mit dem Lied "Quando saró vecchio" geschafft, das vielleicht nicht das beste auf seinem neuesten Album ist (welches mich übrigens bestens durch den Monat begleitet hat), aber vielleicht das eingängigste. Es macht auf jeden Fall Spaß.
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